Armeehistoriker Dyer über Afghanistankrieg: "Militär nutzt immer weniger"
Der Militärhistoriker Dyer glaubt an einen vernünftigen Einsatz von Militär - wenn es ein erreichbares Ziel gibt. Den Afghanistan-Einsatz hält er für unvernünftig. Dyer ist für einen Abzug.
taz: Herr Dyer, Sie waren selbst Soldat und haben an der britischen Militärakademie gelehrt. Haben Sie das Vertrauen in die Macht des Militärs verloren?
Gwynne Dyer: Nein, habe ich nicht. Aber ich glaube an einen vernünftigen Einsatz des Militärs für erreichbare Ziele. Andernfalls tötet man Menschen für nichts. Ich fürchte, dass sowohl der Irak als auch Afghanistan Beispiele dafür sind. Politisch war eine Invasion aus Sicht der USA nach dem 11. September wohl unumgänglich - selbst wenn es womöglich Ussama Bin Ladens Ziel war, genau dies zu erreichen. Aber sieben Jahre später haben wir in Afghanistan kein erreichbares Ziel mehr.
Meinen Sie damit, dass die USA, gemeinsam mit der Nato, dort nicht gewinnen können?
Es kommt darauf an, wie man gewinnen definiert. Nehmen wir die am wenigsten ambitiöse Definition, die man von westlichen Militärs zu hören kriegt: eine demokratische Gesellschaft, in der die Taliban von der Macht ferngehalten werden. Ich habe keine Ahnung, wie man dies erreichen will. Die Instrumente, das Militär, die finanziellen Hilfen sind viel zu klein für die Aufgaben, die man sich selbst gesetzt hat. Man wird nicht bedeutend mehr Militär dorthin schicken.
Wir sprechen hier über die größte Militärmacht, das stärkste Militärbündnis der Weltgeschichte.
Ja, aber wie viel mehr Soldaten ist man bereit nach Afghanistan zu schicken? Nehmen wir an, man hätte dort 500.000 Soldaten über einen Zeitraum von 15 Jahren, damit könnte man einiges bewirken. Aber tatsächlich haben wir nur 60.000 Militärs dort - und dies seit sieben Jahren. Ich würde mich sehr wundern, wenn sie dort länger als weitere vier Jahre blieben. Mit diesen geringen Mitteln kann man keine Gesellschaft von 25 Millionen Menschen umwandeln. Das ginge selbst dann nicht, wenn wir nicht, wie es de facto ist, für eine Seite des Bürgerkriegs Partei ergriffen hätten.
War es denn militärisch gesehen nicht geschickt, wie die US-Regierung 2001 vorgegangen ist? Die Amerikaner haben bombardiert und ein paar Spezialkräfte geschickt, den Krieg am Boden ließen sie die Warlords der Nordallianz führen.
Das war in der Tat geschickt. Die USA haben sich mit den Minderheiten in der sogenannten Nordallianz verbündet. Aber es hatte eben auch Konsequenzen.
Welche?
Man konnte auf diese Weise die Ausbildungscamps der al-Qaida zerstören. Aber durch das gemeinsame Vorgehen mit der Nordallianz haben sich die Amerikaner der Möglichkeit beraubt, die Gesellschaft zu verändern. Man kann nicht als Verbündeter einer Bügerkriegspartei ins Land kommen und dann hoffen, dass man die transformierende Kraft im gesamten Land wird.
Das Problem ist, dass die stärksten Gruppen im Land nicht wirklich die Macht teilen wollen.
Im Endeffekt wird jede afghanische Regierung, die den Abzug der amerikanischen und anderen westlichen Truppen überleben will, einen Deal mit den Paschtunen machen. Das wird unumgänglich sein, sonst gibt es einen Umsturz. Doch solange die Amerikaner im Land sind, gibt es keinen Anreiz für so einen Deal. Im Gegenteil, die USA hindern die Regierung daran, zu solch einer Übereinkunft zu kommen.
Wenn es so ist und die US-Regierung diese Strategie nicht zulässt, was wäre dann ihre Langzeitstrategie?
Ich glaube, sie hat keine langfristige Strategie. Sie hat eine rhetorische Linie, aber keine Strategie.
Wie könnte diese denn aussehen?
Ich spreche mit vielen hochrangigen Militärs. Aber ich kenne niemanden auf Kommandeursebene, der eine Idee hat, wie dieser Krieg zu gewinnen ist. Warum? Weil es ein Guerillakrieg ist. Weil es ein Bürgerkrieg ist. Und weil wir nicht im Entferntesten die Möglichkeiten haben, Ressourcen in einem Umfang dorthin zu schicken, mit denen es theoretisch die Möglichkeit gäbe, diesen Krieg zu gewinnen. Eine seriöse Strategie würde sehr viel mehr Truppen voraussetzen - und sehr viel mehr Geld.
Aber die USA und die Nato senden doch mehr Truppen.
Es bedürfte einer sehr großen Aufstockung, ein Vielfaches von dem, was jetzt vor Ort ist. Wir haben derzeit in Afghanistan weniger als die Hälfte dessen, was die Sowjets in den 90er-Jahren an Militärs und Zivilisten dort hatten. Dabei sahen sich die Sowjets keinem ethnisch-definierten Bürgerkrieg gegenüber, verfügten über eine halbwegs kompetente Regierung in Kabul und konnten auf eine einigermaßen intakte afghanische Armee zurückgreifen. Dennoch sind sie, trotz zehnjähriger Anstrengungen, kläglich gescheitert.
Die Befürworter des Isaf-Einsatzes in Deutschland sagen, dies sei ein Problem der US-Truppen. Die USA würden zu viel in Bomben und zu wenig in den Wiederaufbau stecken.
Das wäre ein plausibles Argument - wenn man sich nicht gerade im Krieg befände.
Die deutsche Bundesregierung bestreit dies.
Ich weiß. Aber es ist nun mal so. Dort ist Krieg.
Aber es ist kein regulärer Krieg.
Nun, die andere Seite verfügt über keine Luftwaffe, keine schweren Waffen, wenig Mittel - sie kämpfen, wie Guerillas halt kämpfen.
Die Anschläge gelten vor allem zivilen Projekten.
So gehen Guerillas nun mal vor, wenn man Aufbauhilfe leistet. Sie zerstören das, was gebaut wurde. Man baut eine Brücke, sie sprengen sie in die Luft. Man baut eine Schule, sie bringen die Lehrer um und brennen die Schule nieder. Wären die Projekte erfolgreich, bedeutete dies ein Scheitern der Guerilla.
Aber im Norden ist es ruhig. Also doch ein militärischer Erfolg der Isaf?
Stimmt, der Norden ist ruhig. Und weshalb? Weil die Anführer dort von den Amerikanern das bekommen haben, was sie wollten. Deshalb wird der Norden ruhig bleiben. Man kann dort Brücken und Schulen bauen, aber für den Rest des Landes ist das irrelevant.
Wenn die Lage so katastrophal ist, wie Sie sie schildern, liegt dies an bestimmten Fehlern im Vorgehen der US-Streitkräfte, oder war dies unausweichlich?
Die Situation könnte etwas besser sein, wären einige Fehler vermieden worden. Aber selbst im besten Fall wären wir nie in der Lage gewesen, Afghanistan komplett zu verändern. Wir waren nie wirklich bereit, entsprechend viel zu investieren.
Sie haben über ambitionierte und unrealistische Kriegsziele gesprochen. Was könnte in der jetzigen Lage noch ein erreichbares Ziel der USA und der Nato in Afghanistan sein?
Das glücklichste, noch denkbare Ergebnis nach einem Abzug wäre eine einigermaßen gefestigte afghanische Zentralregierung, an der ein ausreichend großer Anteil der paschtunischen Führung beteiligt ist, um so den Bürgerkrieg abzuschwächen.
Das klingt sehr bescheiden.
Afghanistan ist die meiste Zeit auf diese Weise regiert worden. Natürlich kann man sich anderes vorstellen: Wahlen, Demokratie und so weiter, aber man wird dies jetzt nicht erreichen.
Die große Lösung soll der Aufbau einer afghanischen Armee bringen.
Das bringt alles nichts, solange es einen Bürgerkrieg gibt und wir, die USA und die Nato, uns auf einer Seite an diesem Krieg beteiligen. Sehen Sie sich die ethnischen Gruppen an, aus denen die afghanische Armee rekrutiert wird, es sind sehr wenige Paschtunen in der Armee. Und die Armee ist Teil des Bürgerkrieges.
Wann wird sich die Nato zurückziehen?
Das mag zynisch klingen, aber es ist ganz einfach: wenn sich die Amerikaner zurückziehen.
Das Argument, dass man die Afghanen nicht im Stich lassen darf, zählt dann nicht mehr?
Es geht nicht darum, ob wir die Afghanen lieben oder hassen. Es geht nicht um Moral. Wir gehen, weil wir nichts erreichen. Und weil wir dort Menschenleben verlieren.
Warum sind die USA, warum ist die Nato dann noch dort?
Afghanistan ist nur wichtig, weil wir dort Truppen haben. Da geht es um Symbolik. Man mag nicht zugeben, dass es keine gute Idee war, dorthin zu gehen.
Afghanistan ist ein kleines, nicht industrialisiertes Land. Wenn die USA und die Nato dort ihren Willen nicht militärisch durchsetzen können, was kann militärische Macht dann noch erreichen?
Sehr wenig. Militärische Macht ist immer weniger nutzbar. Fragen Sie die Israelis! Dieser Prozess geht nun schon seit 50 oder 60 Jahren. Große Industriestaaten können keine Kriege mehr gegeneinander führen.
Aber sie führen gelegentlich Kriege gegen schwächere Staaten.
Auch gegen Staaten in der Dritten Welt ist der Gebrauch klassischer westlicher Militärmacht nicht mehr erfolgreich - wegen der, wie es an amerikanischen Militärakademien genannt wird, "asymmetrischen Kriegführung". Wir haben Panzer, sie haben selbst gebaute Sprengsätze. Unsere Panzer können unsere politischen Ziele nicht durchsetzen. Aber ihre Sprengsätze können uns dazu bewegen, wieder nach Hause zu gehen.
INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ
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