Kerkermeister im Freudentaumel

Einzelhaft, Gattenliebe, Temposchübe, Barbaren und Kämpfernaturen: „Fidelio“ landet am Stadttheater Bremerhaven viel umjubelt zwischen Realismus und großer Geste. Und das Schlusstableau beweist: Beethovens Musik eignet sich als Soundtrack zu jedem zukünftigen Bastillensturm

Beethovens hymnische Feier der Gatten- und Menschheitsliebe, jugendlich-frisch inszeniert, ohne verstaubtes Weihepathos, in einer gediegenen musikalischen Interpretation mit einem grandiosen Finale – das Premierenpublikum im ausverkauften Großen Haus des Stadttheaters Bremerhaven feierte diesen „Fidelio“ mit Bravorufen und lang anhaltendem Beifall.

Ist es möglich, diese Oper aufrüttelnd zu inszenieren, ohne dabei den Zeigefinger allzu deutlich zu erheben? Regisseurin Jasmin Solfaghari wagt einen Drahtseilakt zwischen Realismus im Kleinsten und großer plakativer Gestik. Sie macht aus den singspielhaften Eingangsszenen eine Spitzweg-Idylle: Eine Bühne auf der Bühne, ganz eng, zwischen zwei breite Wellblech-Säulen gepresst, zeigt die Karikatur des privaten Glücks mitten im Gefängnis.

Wäscheleine, Bäumchen, Bügelbrett. Hier besingt eine kurzberockte, geradezu kess aufgetakelte Marzelline (Daniela Stuckstette mit perlend heller Stimme) beim Bügeln den vermeintlichen Mann Fidelio (“Oh, wär ich schon mit dir vereint“), nachdem ihr der Pförtner Jaquino (Tomasz Kwiatkowski spielerisch und gesanglich souverän) vergeblich Heiratsavancen gemacht hat. Hier lobt Vater Rocco den Wert des Goldes für die künftige Ehe, wobei sich Rocco-Darsteller Benno Remling mit vollem weichem Timbre vom Klischee entfernt: Remling verrät unter den komischen Zügen des Alten den gebrochenen Charakter des Kerkermeisters, der noch lernen muß, gegen seinen mörderischen Gefängnis-Chef aufzubegehren.

Der Finsterling Pizarro läßt seinen Erzfeind Florestan im Kellerloch aushungern, bevor er ihn - kurz vor der überraschend angekündigten Visite des Ministers - eigenhändig umbringen will. Dieser Gefängnisgouverneur ist ein geschniegelter Brutalo, und John Rath gibt ihm mit einer ungeheuer voluminösen Stimme etwas extrem Barbarisches. Regisseurin Solfaghari und ihr Bühnenbildner Alexander J. Mudlagk setzen ihn hinter einen riesigen Schreibtisch, im Hintergrund der Hof des Gefängnisses: Ein starkes, wuchtiges Bild, das den gesamten Bühnenraum nutzt.

Der musikalische Leiter Stephan Tetzlaff macht aus dem Auftakt zum Zweiten Akt einen der Höhepunkte dieser Aufführung: Präzise arbeitet er die musikalischen Kontraste heraus, mit der Beethoven die düstere Atmosphäre von Florestans Einzelhaft ausmalt, und fantastisch kommt die Stimme Ulric Anderssons ins Spiel: Gegen die Wand gewendet, mit dem Rücken zum Publikum singt er jenen in wenigen Sekunden vom Piano ins Forte gesteigerten Klageruf „Gott! Welch Dunkel hier!“ Andersson, in verschmutzem Anzug, als sei er mitten aus dem Alltag gerissen worden, verbindet den Schmelz des jugendlichen Helden mit lyrischer Innerlichkeit.

Und Leonore? Die Gastsängerin Sabine Türner deutet sehr überzeugend mit wenigen typischen Gesten den burschikosen Jüngling an. In ihrer großen Arie („Abscheulicher! Wo eilst du hin?“) wirkt sie etwas zurückhaltend, der Wechsel vom Hochdramatischen zur Innerlichkeit und die Steigerung in extreme Höhen zum Lob der Gattenliebe funktioniert nicht immer. Aber der wunderbar warme Klang ihrer Stimme und ihr dynamischer Zugriff lassen das vergessen: Diese Leonore ist eine Vollblut-Kämpfernatur.

Das große Schlußtableau mit einem grandios musizierten Freudentaumel wirkt weder kitschig noch steif: Hier siegt die Musik, von der Ernst Bloch sagt, jeder künftige Bastillensturm sei in ihr angelegt, eine Musik, deren ungeheure Spannungskurve, deren lyrische Passagen und deren enorme Temposchübe Stephan Tetzlaff plastisch herausarbeitet, und die bis in die solistischen Einzelstimmen - nicht zuletzt hervorragend gespielte Hörner und ein klangschönes Oboensolo – mit aller Sorgfalt präsentiert wird. Hans Happel

nächste Aufführungen: 8., 17. und 30. Januar, jeweils 20 Uhr