SEPTEMBER: EIN KLEINER MOMENT DES ZORNS NACH DER BUNDESTAGSWAHL
: Nur die Brezeln waren enttäuschend

Der Himmel über Berlin hängt tief. Kein Engel in Sicht. Es nieselt, und in zwei Stunden schließen die Wahllokale. Das Regierungsviertel liegt fast ausgestorben. Ü-Wagen harren neben wichtigen Gebäuden geduckt der Dinge, die da kommen mögen. Noch schweigen die Politiker. Ich bin das Volk, na ja, einer von vielen, aber wichtig heute, weil Wahlen sind. Wenn ich auf diesen nassen Straßen im Zentrum der Macht noch eine Weile herumlungere, vielleicht hält mir ja mal jemand ein Mikro vor die Nase. Anzugträger, die Mäntel und Schirme tragen, sie hasten auf Gebäude zu. Manche fahren in Limousinen vor. Wichtigkeit!

Im Sony-Center am Potsdamer Platz regnet es. Schönes Dach, aber eben nicht dicht. Der Wind pfeift unangenehm durch die zugigen Nischen zwischen den Glasfassaden. Ist eben mehr so Schönwetterarchitektur. Im Innenhof werden Menschen mit Musik animiert. Keiner lächelt. Bei dem Wetter, bei der Wahl?

In der baden-württembergischen Landesvertretung gibt’s gegen Einladung Wahlparty mit Essen und Musik. Auch ich habe, obwohl keinen rechten Anzug, so heute doch eine Einladung. Ich kenne einen der Künstler, die hier Spaß verbreiten sollen. Im großen Foyer bricht Jubel aus, als die ARD auf Großbildleinwand die Ablösung der Regierung prognostiziert. Draußen im Garten ein Zelt, ein kleines Häufchen Andersdenkender wärmt sich an Maultaschen und einem kleinen Fernseher mit den anders lautenden ZDF-Prognosen. Die Brezeln sind knochentrocken. Ein Enttäuschung, bin ich doch einzig hier, um mich lecker durchzufressen. Kurz einmal, als ich neben einer nervigen Dame im Foyer am Stehtisch lande, die von anderen Zeiten schwärmt, die jetzt wieder kämen, wallt in mir etwas von der Wut auf das Bonzenvolk auf, das sich hier als Eigentümer des Staates fühlt. So mancher träumt schon davon, morgen einen neuen Job zu bekommen. Für die ist das Ergebnis wichtig. Für mich nicht.

JÜRGEN WITTE