türkische versöhnung von WIGLAF DROSTE
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Ich traf Kipp in Dimitris Kneipe in Kreuzberg. Er saß am Tisch, ein Mineralwasser und eine Ausgabe der Zeit vor sich. Er las so konzentriert, dass ich unbemerkt hinter ihn treten konnte. Ich tippte ihm auf die Schulter und sagte: „Mann, bist du alt geworden.“ Kipp zuckte hoch. „Ach du“, brummte er. „Zu spät, wie immer. Und wieso alt?“ Gekränkt sah er mich an. Wie so viele, die allergrößten Wert darauf legen, sich körperlich fit zu halten, verstand er in Fragen des Aussehens und des Alters keinen Spaß. Ich zeigte auf den Papierwust vor seiner Nase. „Ein Abo kann ja passieren“, sagte ich. „Wegen der schicken Prämie oder weil der Typ von der Drückerkolonne so traurige Augen hatte. Aber das Zeug lesen, das geht gar nicht. Das macht dein Hirn zu Asbach. Eine Stunde Zeit gelesen, und du riechst nach Endstadium.“

Kipp nahm den Ball auf. Wir kannten uns mehr als 25 Jahre, trafen uns gelegentlich, erzählten uns Neues von unseren Musiker- und Schriftstellerhelden, ratschten die Kulturjauche durch und kabbelten uns. Kipp war am Zug. „Hier, in der Zeit – ein Spitzen-Artikel von Helmut Schmidt gegen den EU-Beitritt der Türkei“, trumpfte er auf. „Schmidt sagt, die Türken passen nicht zu uns. Astrein.“ Ein Freund ist ein Freund, und was wiegt Gesinnung gegen Freundschaft? Ob Kipps geistige Labbrigkeit, die man auch als S-o-z-i-a-l-d-e-m-o-k-r-a-t-i-e buchstabieren konnte, nun echt war oder zur Provokation vorgetäuscht, ich ging darauf ein – das gehörte zu unserem Spiel.

„Seit wann gibst du etwas auf das Gerede dieses Wehrmachtsleutnants?“, blaffte ich. „Auf sein widerliches ‚Wir-tun-nur-unsere-Pflicht!‘, mit dem sich jeder Militärmörder ein bisschen Ethik auf die Kragenspiegel streut?“ Kipp grinste. „Du diskreditierst den Autor, damit du seine Argumente nicht anhören musst.“ Seine Schlaumeierei ging mir auf die Nerven. „Quatsch“, konterte ich. „Du musst dir doch nicht bei diesem ranzigen Elder Staatsräsonisten Helmut Schmidt Schützenhilfe für deine eigene Abneigung holen. Eklig ist doch nicht, dass einer was gegen Türken hat – eklig wird es, wenn er sagt, sie passen nicht zu uns, wenn er also glaubt, es gäbe ein völkisches Wir, das besser ist.“ Ich griff nach Kipps Arm. „Wenn wir beide jetzt hier rausgehen und Richtung Neukölln laufen, sehen wir in einer halben Stunde mehr als tausend bedauernswerte Folgen unterlassener Erziehung, die sich permanent am Sack kratzen und auf den Gehweg spucken. Wenn du Sackkratzen und Trottoirrotzen zum Delikt erklärst und abkassierst, ist Berlin in einer Woche saniert. Und das zahlen alles unsere jungen Türklis – die ansonsten genauso öde durch die Gegend hausmeistern wie der deutsche Schangel.“

Kipp war baff. „Du hast gewonnen“, sagte er. „Das schlägt Schmidt um Längen.“ Er bestellte eine Flasche vom besten Roten, was sonst nie vorkam – Kipp war geizig und hatte sich deswegen eine Familie angeschafft. Wir begannen zu dichten: „Kratz i mi am Ssack, kratz i mi am Ssack, kratz i mi am Ssacke, hier in Neukölln …“ Wenn das Lied fertig ist, machen wir Straßenmusik, denn nichts ist so menschen- und völkerversöhnend wie der Humor.