selbstverstümmelung, sexfantasien etc.
: Sich vor Lust verzehren: Der Fall des Bernd Jürgen B.

Body Modifications

Was bewegt einen Menschen dazu, sich den Penis abschneiden zu lassen und ihn zu verzehren? Schnell ist man mit der Erklärung bei der Hand, da könne wohl jemand nicht ganz bei Trost gewesen sein – schließlich wäre man selbst zu einer solchen Tat nur dann in der Lage, wenn man den Verstand verloren hätte.

Doch bei der Interpretation des Verhaltens anderer Menschen kann man nicht davon ausgehen, dass sie genauso ticken wie man selbst: Wir wissen, dass manche Völker sich Pflöcke in der Unterlippe treiben, um besser, nicht blöder auszusehen. Wir wissen, dass Menschen, die gerne Blutwurst essen, das nicht aus Liebe zum Gruseligen tun, sondern weil es ihnen schmeckt. Gerade auf sexuellem Gebiet aber fällt die Einsicht schwerer, dass die eigene Erfahrung der Interpretation nicht immer dienlich ist. Zusätzlich erschwert die Annahme einer simplen, monokausalen Erklärung das Verständnis abweichender Handlungen. Selbstverletzer und Selbstverstümmler stellen eine heterogene Gruppe der, in der sich die unterschiedlichsten Motivationen finden.

Zum einen gibt es Menschen, die – zum Teil schon sehr früh – sexuell gefärbte Phantasien über die irreversible Verstümmelung ihres Körpers hegen. Rationale Überlegungen hindern sie an der Umsetzung ihrer Fantasien: Nicht anders als Menschen, die zwar auf Aussichtsplattformen über den verlockenden Kitzel eines Sprungs in die Tiefe nachdenken, aber gleichzeitig wissen, dass das Vergnügen ein im Wortsinne einmaliges wäre. Die Eskalation solcher Fantasien ist allem Anschein nach selten und hängt weniger von ihrer Art und Intensität als von anderen Rahmenbedingungen ab.

In der freien Wildbahn des Internets finden sich diese „Träumer“ häufig in Symbiose mit einer weitgehend nicht sexuell motivierten Gruppe, mit der sich Forschung und Öffentlichkeit erst in den letzten Jahren zu befassen beginnt: Apotemnophilie oder Amelotasis bezeichnet das Gefühl, im unpassenden Körper zu leben, und den Wunsch nach Amputation gesunder, aber als störend empfundener Gliedmaßen.

Ursprünglich gingen Mediziner und Psychologen davon aus, dass die angestrebte Operation lediglich zu einer Verlagerung des Problems führen würde. Mittlerweile gibt es nicht nur zahlreiche Erfahrungsberichte im Internet, sondern auch gut dokumentierte Fallbeispiele, in denen die Operation die Patienten zufrieden und ohne weitere Amputationswünsche hinterlässt. Wie in der Schönheitschirurgie kommt es auch hier vor, dass immer neue Operationen die Unzufriedenheit nicht lindern. Doch in der Regel zeigt die „anpassende“ Operation durchgreifende Wirkung, während Psychotherapie meist fruchtlos bleibt. Im Unterschied zur Schönheitschirurgie sind Operationen, die vom gängigen Schönheitsideal weg anstatt zu ihm hin führen, gesellschaftlich stark sanktioniert, so dass es nicht leicht ist, dafür Ärzte zu finden. Nicht zuletzt aus diesem Grund bietet z. B. das US-amerikanische „Body Modification E-Zine“, neben Erfahrungsberichten, auch eine „Elective Home Surgery FAQ“ für diejenigen an, die selbst Hand anlegen wollen oder müssen.

Zusammen mit den Borderline-Kranken und denjenigen, die es – oft ganz ohne sexuelle Komponente – als angenehm oder beruhigend empfinden, sich Schnitte und leichte Verletzungen zuzufügen, stellen diese Gruppen die Mehrheit der Selbstverletzer, wobei entgegen der gängigen Annahme nur wenige Betroffene Sadomasochisten und nur wenige Sadomasochisten Selbstverletzer sind.

Die Häufigkeit dieser Interessen ist schwer zu bestimmen. Abweichungen vom Normverhalten sind schon im nicht sexuellen Bereich größtenteils weiße Flecken auf den Landkarten der Psychologie. Und so lange selbst Zahlen zur Verbreitung der Homosexualität weiterhin umstritten sind, ist an andere Daten nicht zu denken.

Was genau in Bernd Jürgen B. vorging, der seinen eigenen Penis verzehrte, bevor er von seinem Mittäter aufgegessen wurde, wird wohl ewig im Dunkeln bleiben. Das Phänomen der Selbstverstümmelung lässt sich immer nur am Einzelfall nachvollziehen – aber „den“ Selbstverstümmler gibt es ebensowenig wie „den“ taz-Leser.

KATHRIN PASSIG