Das Koch-Rezept

Ein „Lügenausschuss“ des Bundestags wäre ein überflüssiges und schädlichesKlamaukgremium, denn der Gegenstand der Untersuchung ist bereits jetzt öffentlich

Die Union wird alle Mühe haben, sich nicht dauerhaft lächerlich zu machen

Schon der Name, den Journalisten dem Gremium verpasst haben, klingt kurios: „Lügen-Ausschuss“. Noch grotesker ist sein Auftrag: Der elfköpfige Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags soll erforschen, ob die rot-grüne Regierung während des Wahlkampfs im Sommer 2002 dem Wahlvolk vorsätzlich die Wahrheit vorenthalten hat.

Einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, ist das gute Recht der Minderheit. Ein Viertel der Bundestagsmitglieder kann eine parlamentarische Untersuchung verlangen. Diese im Artikel 44 des Grundgesetzes verankerte Vorschrift ist vernünftig und hat ihren Sinn: der Regierung auf die Finger zu schauen und notfalls auch darauf zu klopfen.

Die CDU/CSU hat sich auf Druck ihres wahlkämpfenden hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch entschlossen, jetzt das Klamaukgremium zu installieren. Die FDP hat sich drangehängt. SPD und Grüne bringen allerlei Einwände vor, können sich aber letztlich sowieso nicht wehren. Also wird an diesem Freitag der Bundestag über das Lügengremium beraten. Die leise Hoffnung, dass sich das Parlament in letzter Minute besinnt und den überflüssigen Unfug bleiben lässt, ist unrealistisch. Obwohl schon jetzt feststeht, was herauskommt: nichts außer Spott und Häme, Verdruss und Ärger.

Die Einzigen, die sich ins Fäustchen lachen, werden diejenigen sein, die gerade dabei sind, das parlamentarische System verächtlich zu machen: der Historiker oder Politologe Arnulf Baring und einige Journalisten, die es nicht lassen können, diesem Barrikadenscharlatan zum Verbreiten seiner lausigen Aufrufe und Thesen zu verhelfen.

Leiden wird das Prinzip der parlamentarischen Untersuchung. Wer bemängelt, dass dabei zu wenig herauskommt, weil Parteiengezänk die Ermittlung überlagert, hat nur vordergründig Recht. Tatsächlich sind viele Fälle wie ein verbotener Verkauf von U-Boot-Konstruktionsplänen nach Südafrika oder ein mit Wissen des Bundesnachrichtendienstes abgelaufener Plutoniumschmuggel aus Moskau nach München nie restlos aufgeklärt worden. Aber es kamen doch immer wieder Fehlleistungen von Politikern und staatlichen Behörden ans Licht, die sonst verborgen geblieben wären und teilweise sogar beachtliche Folgen hatten.

So gab es spektakuläre Rücktritte, wie den des Bundestagspräsidenten Rainer Barzel (CDU) im Verlauf der Flick-Parteispenden-Aufklärung und den des BND-Präsidenten Konrad Porzner (SPD) als Folge der Plutoniumaffäre. Auch die Verurteilung des früheren Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff (FDP) wegen Steuerhinterziehung ist ein oft genanntes Beispiel. Häufig gab es neue Gesetze oder Umstrukturierungen in Behörden, die erkannte Schwächen beseitigen und offenkundige Mängel beheben sollten. Letztlich ist sogar ein Gesetz über die Untersuchungsausschüsse ein Ausfluss der Arbeit dieser Gremien. Es hat zwar Jahrzehnte gedauert, bis es endlich zustande kam, aber immerhin gibt es jetzt eins.

Die Geschichte der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestags begann mit der Gründung der Republik. Einer der ersten ging 1950 der Frage nach, ob bei der Entscheidung, Bonn anstatt Frankfurt am Main zur provisorischen Hauptstadt zu machen, Bestechung durch „im Raume Bonn vergebene Aufträge“ im Spiel war. Seither hat es 32 Untersuchungsausschüsse gegeben, die unter den Namen Fibag und Lockheed, Neue Heimat und U-Boote, Flick, Guillaume, Tiedge und Schalck Aufsehen erregten. Genau genommen waren es noch ein Dutzend mehr, denn zwölfmal untersuchte der Verteidigungsausschuss Vorgänge innerhalb der Bundeswehr. Obwohl 13 Jahre nach dem Flick-Ausschuss, der ein illegales Parteienspendensystem offengelegt hatte, wieder ein Untersuchungsausschuss zu schwarzem Geld und grauen Konten gebildet werden musste, bleibt es dabei: Nur durch Aufdecken und Kontrollieren können überhaupt Schlupflöcher und Gesetzeslücken gestopft werden. Das gilt auch für vergleichbare Untersuchungsverfahren in Länderparlamenten.

In fast allen der bisherigen Ausschüsse wurde übrigens gelogen, was das Zeug hielt. Der Lügenausschuss wäre der 33. seiner Art. Was aber soll er denn herausfinden? Der von den Unionsparteien formulierte Auftrag war ursprünglich ein 99 Wörter langes Konstrukt, dessen verbale und gedankliche Verrenkungen die künstliche Aufgeblasenheit verrieten. In den vergangenen Tagen wurde der Untersuchungsauftrag noch einmal überarbeitet. Damit ist sein Sinn aber nicht erkennbarer geworden. SPD und Grüne haben nur dafür gesorgt, dass nicht sie alleine als Wahllügenbolde angeprangert werden, sondern auch CDU, CSU und FDP aufs Sünderbänkchen kommen.

Die Hoffnung, dass sich das Parlament besinnt und den Unfug bleiben lässt, ist unrealistisch

Es gibt hier nichts zu untersuchen. Alles liegt offen. Alles wurde öffentlich behandelt. Alles ist dem an Politik interessierten Teil der Bevölkerung bekannt. Alles wurde von den Medien durchsichtig gemacht. Lücken im Bundeshaushalt, die Finanzlage der Renten- und der Krankenversicherung, die Stabilitätskriterien der Europäischen Union – alles ist breit diskutiert und debattiert worden. Wer hat davon nichts gewusst? Jeder Mensch konnte sich informieren. Welche Wähler fühlen sich betrogen? Die Opposition hatte reichlich Zeit und Gelegenheit zu Kritik und Widerspruch. Indem sie jetzt nachträglich dieses Forum missbraucht, verlängert die Union den Wahlkampf, der mit ihrer Niederlage geendet hatte. Doch sie kann nicht mehr gewinnen. Im Gegenteil, sie richtet nur Schaden an.

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ist streng genommen dazu da, zu ermitteln, ob durch Regierungshandeln Gesetze verletzt oder umgangen worden sind. „Wahlbetrug“ ist in dem hier verwendeten Sinne kein Straftatbestand. Nun müssen nicht unbedingt nur Fälle behandelt werden, die unter das Strafrecht fallen. Zweifellos gehört es zu den Rechten der Opposition, frei zu bestimmen, was sie durchleuchten möchte. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind neben ihrem eigentlichen Zweck, Missstände aufzudecken und abzustellen, immer auch politische Kampfinstrumente. Wer aber mit moralischen Begriffen wie Lüge hantiert, muss ertragen, wenn bei der Beurteilung seines Tuns gleiche Maßstäbe angelegt werden. Das Begehren der Unionsparteien ist verlogen. Es geht nur nach dem Koch-Rezept.

Vorsitzender des Untersuchungsgremiums wird der Berliner SPD-Abgeordnete Klaus-Uwe Benneter. Er ist ein ausgebuffter Jurist und politisch raffiniert genug, das Verfahren so zu lenken, dass sich die Schäden für das Gremium und die politische Kultur in Grenzen halten. Die Union wird alle Mühe haben, sich nicht dauerhaft lächerlich zu machen. Auch die Medien tragen – wie in jedem Untersuchungsausschuss – besondere Verantwortung: Sie müssen sich hüten, propagandistische Sprüche unreflektiert zu verbreiten, sondern müssen durchsichtig machen, was dahinter steckt. HELMUT LÖLHÖFFEL