Eine Maschine mit viel Glück

ELFMETER Bloßes Gerenne, weggedroschene Bälle und ohne jegliches Rezept. Nur mit viel Dusel und einer guten Keeperin kickt sich die DFB-Auswahl ins WM-Halbfinale. Dort sollte die Silvia-Neid-Elf gegen das Team USA beweisen, dass sie nicht nur erfolgreich, sondern auch gut spielen kann

■ Ende des kanadischen Traums: Bereits nach einer Viertelstunde im Viertelfinale gegen England geriet Kanadas Projekt eines Titel im eigenen Land ins Wanken. Dafür sorgten zwei Patzer der Kanadierinnen. Zunächst verlor Innenverteidigerin Lauren Sesselmann nach einem technischen Fehler den Ball. Jodie Taylor nutzte das Missgeschick aus der elften Minute zu einem Sololauf und für die Führung der Engländerinnen. Nur drei Minuten später sah Torhüterin Erin McLeod beim 0:2 durch einen haltbaren Kopfball von Lucy Bronze nicht gut aus. Von dem Schock erholten sich die Gastgeberinnen nur noch teilweise. Kurz vor der Pause erzielte Christine Sinclair den Anschlusstreffer. In der zweiten Halbzeit verteidigten die Engländerinnen die knappe Führung erfolgreich und sorgten dafür, dass jeglicher Finaltraum der Kanadierinnen vor 54.027 Zuschauern platzte. England steht zum ersten Mal im Halbfinale einer Weltmeisterschaft. Bisher war das Team nie über das Viertelfinale hinausgekommen.

■ Japan auf Kurs: Im Duell Australien gegen Japan setzte sich der amtierende Weltmeister durch den späten Treffer von Mana Iwabuchi (87.) durch. Beide Teams hatten nicht viele Torchancen. Während Australien überwiegend tief stand und auf Konter setzte, versuchten die Japanerinnen mit viel Ballbesitz die Partie zu bestimmen. Gegen Spielende fiel dann in einer kurzen japanischen Druckphase nach einem Eckball der Siegtreffer.

AUS MONTREAL DORIS AKRAP

Gary Lineker ist bei den Frauen angekommen. Hier gilt neuerdings auch: 22 Spielerinnen jagen 90 Minuten lang hinter dem Ball her, und am Ende gewinnen immer die Deutschen. Die hochtourige, alles aus dem Weg räumenden Maschine des Teams von Silvia Neid stand im Viertelfinale im Leerlauf. Rumpelnd und röchelnd schleppte sie sich ins Elfmeterschießen. Nur dank der einfach nicht ins Tor gehen wollenden Bälle der Französinnen hatten sie es bis dahin überhaupt geschafft.

„Ein Spiel zu dominieren heißt nicht, dass man es auch gewinnt“, war die bittere Bilanz des französischen Trainers Philippe Bergeroo, dem Gary Linekers legendärer Satz dabei sicher auch durch den Kopf ging. Gekämpft, und zwar mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, das hatten die Französinnen. Ihr Spiel im Stade Olympique war offensiv, lauffreudig, schnell, elegant und ein präzise kombinierendes Flügelspiel – eine Demonstration der Überlegenheit, gegen das die Deutschen keinerlei Rezept hatten. Außer rumholzen. Mit einigen wenigen Ausnahmen, zu denen vor allem die Flanken und Balleroberungen von Simone Laudehr gehörten.

Allein gegen das Gebolze von Abwehrspielerin Annike Krahn lässt sich nichts sagen. Sie war am Freitag die einzige deutsche Spielerin, die das macht, was man von ihr erwartet, sie haut die Bälle unbeeindruckt von ihrer Wucht oder Präzision möglichst weit zurück in die gegnerische Hälfte. Dass sie gegen schnelle Stürmerinnen immer schlecht aussieht, ist nicht ihr Verschulden. Für Laufwettbewerbe hatte sie sich noch nie beworben. Ihre Kolleginnen aber stehen so hoch, dass sie bei einem schnellen Konter oft die letzte Spielerin ist.

Die Trainerin wechselt ihr Konzept nicht, nur die Flügelspielerinnen versuchen mit wildem Hin- und Hergewechsel irgendeine Lösung zu finden, um die Maschine aus dem Leerlauf zu kriegen und die Französinnen unter Kontrolle.

Die Tatsache, dass die Deutschen keinen Plan B haben, zeigte sich schon im Spiel gegen Thailand und gegen Norwegen. Liegt das Team zurück, überrascht der Gegner die Maschine: Streut er ihr Sand ins Getriebe, ist die Maschine lahmgelegt. Statt der nun gefragten Individualisten, die das Spiel an sich nehmen, Ideen entwickeln und Räume erobern, lassen sich die Spielerinnen wie hinkende, hechelnde Hunde kreuz und quer durch die Landschaft jagen, dreschen die Bälle ins Leere, meilenweit von Tor oder Spielerin entfernt. Was man früher Dusel nannte, heißt heute Glück. Davon sprachen Trainerin und Spielerinnen nach dem Einzug ins Halbfinale unisono. Gegen Pech kann man nicht wirklich etwas tun. Um zu verhindern, dass sich eine Niederlage als Trauma tief in die eigene Psyche einschreibt, muss man das Erlebte bewerten und bearbeiten. Der französische Trainer sagte später, dass sie mit der Lehre nach Hause fahren werden, ihre Chancen besser nutzen zu müssen. Was soll er auch sagen? Schöner und besser Fußball zu spielen als diese französische Mannschaft kann gerade niemand sonst.

Eine Lehre sollte der Trainerin, die auf Silvia Neid folgen wird, dieses historische Viertelfinale sein. Es ist zwar nicht neu, dass die Deutschen die Französinnen besiegen. Aber die bei der WM in Kanada von allen Seiten viel beschworene Niveauangleichung ist keine Schimäre.

Vor dieser WM wurde darauf gewettet, dass in Kanada der Torrekord purzeln würde. Man hatte mit etlichen hohen Ergebnissen gerechnet, weil die WM der Frauen erstmals mit 24 Teams ausgetragen wird, und unterstellt, dass daher ein krasses Niveaugefälle herrschen würde. Wer darauf gewettet hat, kann seine Tippscheine getrost jetzt schon wegschmeißen. Mit einem Torrekord wird diese WM wohl nicht in die Fußballgeschichte eingehen. Das Elfmeterschießen im Viertelfinale sehr wohl.

Das Spiel gegen Frankreich war bislang das beste Spiel der WM. Daraus keine Lehre zu ziehen und weiter nach Schema F zu spielen, wäre borniert. Denn die Floskel, dass im Fußball nur der Sieg zählt, gehört abgeschafft, schließlich gibt es auch die Sieger der Herzen. Und als solche schreibt man auch Geschichte. Noch hat Silvia Neid aber mindestens eine Chance, WM-Geschichte der Herzen zu schreiben: am Dienstagabend gegen die USA.