Taliban greifen Parlament an

AGHANISTAN Im Fastenmonat führen die Taliban in den Provinzen und in Kabul eine Angriffswelle durch. Ausländische Entwicklungshelferin von Unbekannten entführt

Die Attacke auf das Parlament erfolgte am eigentlich letzten Tag der Legislaturperiode

VON THOMAS RUTTIG

BERLIN taz | Der afghanische Unterhauspräsident Abdul-Rauf Ibrahimi eröffnet Montagvormittag gerade die Vertrauensabstimmung über den neuen Verteidigungsminister Masoom Stanekzai, als eine Autobombe die Scheiben des Sitzungssaals platzen lässt. Ibrahimi spricht geistesgegenwärtig von einem „Kurzschluss“ und verhindert so wohl eine Panik. Bis auf zwei Parlamentarier, die leichte Blessuren erleiden, können alle Abgeordneten und zahlreiche Besucher unverletzt evakuiert werden. Szenen davon zeigt das afghanische Fernsehen live.

In den umliegenden Straßen in Kabuls Südwesten verletzt die vor dem Parlamentsgebäude detonierte Autobombe 31 Passanten, darunter Frauen und Kinder. In einigen Meldungen ist von zwei oder fünf getöteten Zivilsten die Rede. Als es den sechs oder sieben Angreifern nicht gelingt, in das Parlament einzudringen, verschanzen sie sich auf dem Dach eines benachbarten Rohbaus. Dort werden sie später von afghanische Spezialeinheiten erschossen. Die Taliban bekennen sich zu dem Angriff.

Dessen Verlauf bestätigt: Trotz entgegengesetzter Behauptungen nehmen die Taliban bei ihren Angriffen immer wieder den Tod von Zivilisten in Kauf. Ihrer Definition nach sind alle jene „legitime Ziele“, die mit der Regierung kooperieren. Dabei ist nach dem Kriegsvölkerrecht auch das Parlament ein ziviles Ziel, das nicht angegriffen werden darf.

Die Attacke erfolgte am eigentlich letzten Tag der Legislaturperiode. Doch Neuwahlen waren nach gravierenden Unregelmäßigkeiten bei der letzten Präsidentenwahl 2014 und wegen der danach ausgebliebenen Reformen des Wahlsystems verschoben worden. Sie sind nun für April 2016 geplant. Präsident Aschraf Ghani hat die Amtszeit der Parlamentarier schon bis dahin verlängert.

Ebenfalls am Montag ist im Westen Kabuls eine ausländische Entwicklungshelferin entführt worden, teilte das afghanische Innenministerium mit. Die Hintermänner sind unbekannt. Auch ist unklar, ob ein Zusammenhang mit dem Angriff auf das Parlament besteht. Gewaltkriminalität einschließlich Entführungen gehört in Kabul zum Alltag, trifft aber meist Afghanen.

Doch steht die Attacke auf das Parlament wohl im Zusammenhang mit der neuesten Angriffswelle der Taliban. Innerhalb der letzten drei Wochen eroberten sie drei Distriktzentren. Das erste – Jamgan in der Provinz Badachschan – entrissen ihnen am Sonntag afghanische Einheiten nach heftigen Kämpfen wieder. Tschahrdara und Dascht-e Atschi in Kundus fielen Ende letzter Woche. Badachschan und Kundus liegen in der Nordost-Region, in der bis Oktober 2013 die Bundeswehr stationiert war.

Die afghanische Regierung versuchte, die Talibanerfolge zu vertuschen. So wurde der Fall von Jamgan erst bekannt, als die afghanische Armee dort eine Gegenoffensive verkündete. Das Foto eines Talibankämpfers, der auf dem Verkehrspolizeiposten im Zentrum von Dascht-e Artschi die weiße Flagge seiner Bewegung schwenkt, verbreitete sich in den sozialen Medien.

Letzte Woche hatten die Taliban einen Aufruf des Obersten Rates der afghanischen Geistlichen zurückgewiesen, über den Fastenmonat Ramadan – der am vergangenen Donnerstag begann – eine Feuerpause einzuhalten. Das bestätigt Erwartungen, dass die Aufständischen mit dem vollzogenen Abzug der meisten westlichen Soldaten ihre Offensive verstärken und die Fähigkeiten der afghanischen Streitkräfte testen würden. 40 bis 100 der 400 afghanischen Distrikte gelten als von den Taliban gefährdet.