Wohngemeinschaft mit Tiger

FILMKUNST Das unvermittelte Hinstellen einer Denkfigur: bei den Dienstag startenden Rencontres Internationales im Haus der Kulturen der Welt ist mit „Ming of Harlem“ auch eine Reflexion über Tiger und Mensch zu sehen

Plötzlich ist da ein Tiger, der durch die Zimmer einer Wohnung spaziert, vielmehr: tigert

VON EKKEHARD KNÖRER

In einem Fünfzimmersozialwohnungsbau in Harlem hat im fünften Stock Ming, der Tiger, gewohnt. Und zwar nicht allein, auch Al, der Kaiman, war Teil der WG. Antoine Yates, der eigentliche Mieter der Wohnung, liebte nun einmal Tiere. Nicht nur die, die sich unsereins als Haustiere hält, sondern auch die Sorte, die dafür wirklich nicht taugt. Mit seinen drei Jahren war Ming, als alles aufflog, ein ausgewachsenes, vierhundert Pfund schweres Tier. Die Ärzte, zu denen Yates mit Wunden an Arm und Bein kam, erkannten rasch, dass das keine Pitbull-Bissspuren waren: Sie schickten die Polizei. Ming kam in den Zoo, Al auf eine Farm für Alligatoren und Antoine in den Knast.

Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass im Haus eigentlich alle vom Tiger wussten. Yates hatte sogar – menschliche – Untermieter in seiner Wohnung, die die Präsenz von Tiger und Kaiman erst gewöhnungsbedürftig fanden, aber am Ende waren sie doch, wie sie der New York Times verrieten, „alle eine Familie“.

Aus diesem fait divers von 2003 hat der britische Künstler Phillip Warnell einen Film gemacht, der sich nicht so ohne Weiteres einordnen lässt. Er beginnt mit Fahrten durch Harlem, Yates erzählt aus dem Autofenster heraus seine Geschichte, meditiert dabei über Tiere der Wildnis, über Dressur, das Reptilienhirn von Al dem Kaiman und seine sehr enge Beziehung zu Ming. Verrückt ist Yates nicht, jedoch ist sein Verhältnis zu Tieren nach den Maßstäben normaler Sozialität doch reichlich seltsam. Heute lebt er, wie man im Abspann von „Ming of Harlem“ erfährt, in seinem privaten Zoo mit Tigern und anderen Raubkatzen in Nevada, da ist das alles, anders als in New York, völlig legal.

Was als Dokumentarfilm beginnt, ändert nach rund einem Drittel der Laufzeit so entschieden wie unerwartet Stil, Tempo und Ton. Plötzlich ist da ein Tiger, der durch die Gänge und Zimmer einer Wohnung spaziert, vielmehr: tigert. Minutenlang, unkommentiert, er macht Tigergeräusche, kein Brüllen, es ist eher ein dunkel-guttural-bellender Laut. Schlagend ist der Kontrast, der durch diese Platzierung der Figur des wilden Tiers in fürs menschliche Leben gedachte Räume entsteht. Wie man spätestens beim Abspann begreift, ist das ganze ein Modell einer Wohnung im Tigerrevier, der mit der Wohnung von Yates in Harlem gar nichts zu tun hat: Der Nachbau der Wohnung ist so wenig im engeren Sinn dokumentarisch wie dieser Film. Es geht um das unvermittelte Hinstellen einer Denkfigur nach dem Leben.

Dann eine weitere Verschiebung: Eine Voiceover-Stimme spricht. Sie spricht ein Gedicht, es geht um Tiger und Alligatoren. Dieses Gedicht trägt den Titel „Oh the animals of language“, verfasst hat es für diesen Film der Philosoph Jean-Luc Nancy, Meister der Dekonstruktion, und es beginnt so: „Oh Tiger oh Alligator / one another neither friends nor foes / cruel indifferent sovereigns meeting by chance.“

„Ming of Harlem“ ist Sonntag nächste Woche zum Abschluss der „Rencontres Internationales“ im Haus der Kulturen der Welt zu sehen, in Anwesenheit von Phillip Warnell. Der Regisseur hat für seinen Film nicht zum ersten Mal mit Nancy kooperiert, im davor entstandenen und bei den Rencontres ebenfalls laufenden Kurzfilm „Outlandish“ geht es um Nancys philosophische Meditation „L’intrus“ über seine eigene Herztransplantation.

Es gibt keine roten Fäden bei der 100-Arbeiten-Schau der Rencontres, höchstens nach dem Eindruck des vorab Gezeigten den gemeinsamen Grundton eines meist sehr humorlos, aber mit Theorieunterstützung vorgetragenen politischen Anspruchs, der sich zu dem der Berlinale etwa so verhält wie Jean-Luc Nancy zu Ken Loach. Aber immerhin ist von Nancy der Weg nicht weit zu Claire Denis. Sie hat vor einigen Jahren ihren Spielfilm „L’intrus“ an Nancys gleichnamiges Buch angelehnt und ist bei den Rencontres mit einer neuen, kurzen Arbeit vertreten.

„Voilà l’enchainement“ (zu Deutsch etwa: „So hing es zusammen“) ist ein kulissenloses No-Budget-Kammerspiel für zwei Personen, Mann/Frau, Schwarz/Weiß, Alex Descas/Norah Krief. Erst berühren die beiden, ein Paar, noch beieinander, und zwar mit Körpern und Worten, dann wird es Streit, Vorwurf, Verletzung und Kampf. Er schlägt sie, sitzt in Haft, aus dem Dialog wird mit teils abrupten Schnitten eine Folge von Monologen.

Die sonst so bewegliche Kamera von Agnès Godard setzt die Körper diesmal sehr nüchtern, nah oder ganz nah ins Bild. Der Strom der vielen Wörter aber bleibt im Kino von Denis und Godard, das immer über die Körper im Bild meditiert, ein nicht so recht assimilierbarer Fremdkörper. Interessante Reibungen entstehen dabei leider nicht. Eher wirkt „Voilà l’enchainement“ als theaternahes Dialogstück enttäuschend konventionell.

■ Les Rencontres Internationales: Neuer Film und zeitgenössische Kunst im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10. 23. bis 28. Juni, Eintritt frei