„Es fehlt an Raum zur Auseinander- setzung“

KUNST Gehörte Leonie Baumann im Vorfeld zu den Skeptikern der Reichstagsverhüllung, war sie später vom Anblick des schimmernden Gebäudes begeistert. Ein Gespräch über wahre Kunst und große Events in der Großstadt

■ Jahrgang 1954, ist Diplompädagogin, Kuratorin und Publizistin. Seit April 2011 ist sie Rektorin der Kunsthochschule Weißensee.

interview NINA APIN

taz: Frau Baumann, als Christo 1995 den Reichstag verhüllte, waren Sie Geschäftsführerin der „Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst“ (NGBK). Gehörten Sie zu den Fans dieser Aktion?

Leonie Baumann: Im Vorfeld war ich skeptisch, vor allem fand ich es fragwürdig, dass der Bundestag über Kunst entscheidet. Aber als ich vor dem verhüllten Reichstag stand, war ich überwältigt. Dieser alte, graue Kasten, der sonst unbeachtet im städtischen Niemandsland stand, hatte plötzlich eine Leichtigkeit! Der Stoff brachte das Gebäude zum Schimmern, es war genial. Das Kunstwerk wurde zum Treffpunkt, man picknickte auf der Wiese davor. Was bis heute nachwirkt an Christos Aktion ist das Gefühl, dass man als Künstler fast alles durchsetzen kann – wenn man nur beharrlich genug ist.

Teilen Sie die These, dass das der Startschuss war für Kultur-Events im öffentlichen Raum?

Überhaupt nicht. Die Reichstagsverhüllung war Aufsehen erregend. Aber sie war kein Event, das nur die bloße Illustration eines Themas ist. Christo setzte seine lange entwickelten künstlerischen Ideen an vielen Orten um – und 1995 eben auch in Berlin. Ein klassisches Beispiel für eine gelungene Kunstaktion im öffentlichen Raum. Etwas Vergleichbares in dieser Größenordnung hat es seither nicht gegeben – allenfalls kleinere Aktionen in dem selben Geist.

Welche Kunstaktionen zum Beispiel?

Eine ähnliche Wirkung hatten wohl Gunter Demnigs Stolpersteine für die Deportierten der Nazi-Zeit. Etwa 5.000 davon gibt es heute in der Stadt, die ersten wurden zur selben Zeit verlegt, in der Christo den Reichstag verhüllte. Die Stolpersteine wirken eher dezentral, sie reagieren stärker auf einen historischen Kontext.

Das tat auch die „Lichtgrenze“, zentraler Bestandteil der Feierlichkeiten zu 25 Jahren Mauerfall …

… die ich als Event bezeichnen würde: Sie brachte die Menschen zum Staunen, aber kaum zum miteinander Reden. Die Präsentation erschöpfte sich in der Illustration des historischen Zusammenhangs. Dieser wurde durch die Durchlässigkeit der Ballongrenze verniedlicht. Ein Spektakel war das, aber keine Kunst im öffentlichen Raum.

Wo sehen Sie heute gelungene Beispiele für Kunstaktionen?

Überall dort, wo der Stadtraum so überraschend genutzt oder umgedeutet wird, dass es die Fantasie anregt. Das war im abrissreifen Palast der Republik der Fall, der geflutet, zum Berg und zum Ausstellungsraum wurde. Auch die Berlin Biennale, die immer wieder in den öffentlichen Raum geht, schafft eine Atmosphäre, die überraschende Impulse hervor bringt. Man könnte sagen, dass das auch die Prinzessinnengärten und das Tempelhofer Feld leisten, obwohl dort keine Kunst im engeren Sinne stadtfindet. Leider gibt es immer weniger geeignete Freiräume für solche Projekte in der Innenstadt.

■ 1971 schreibt der in Berlin ansässige US-Journalist Michael S. Cullen dem Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude einen Brief, in dem er die Verhüllung des Reichstags vorschlägt. Christo ist „interessiert“, schreibt Jeanne-Claude zurück, kann sich aber nicht vor 1972 darum kümmern.

■ 1977 lehnt Bundestagspräsident Karl Carstens (CDU) die Verhüllung ab. Er befürchtet, der Symbolcharakter des Gebäudes könne Schaden nehmen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) und SPD-Chef Willy Brandt engagieren sich für das Projekt.

■ Der neue Parlamentspräsident Rainer Barzel (CDU) ist 1984 für die Verhüllung und schlägt das Jahr 1985 vor. Christo und Jeanne-Claude erklären, bei „grünem Licht“ das Projekt realisieren zu wollen.

■ Mit der Wiedervereinigung 1990 und dem Beschluss, das Parlament nach Berlin zu verlegen, ist auch für Christos Pläne eine neue politische Situation entstanden. Die Zustimmung wächst.

■ 1991 spricht sich die deutsche Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth für die Realisierung des Projekts aus. 1994 entscheidet sich der Bundestag für die Verpackung.

■ 13 Millionen Dollar kostet das Kunstwerk, das die Künstler entworfen haben und finanzieren.

■ 1995 beginnen 90 Kletterer das 109.400 Quadratmeter weite silbrige Polypropylengewebe aufzuhängen. 15.600 Meter Seile und 200 Tonnen Stahl für die Unterkonstruktion sichern die Aktion.

■ „Wrapped Reichstag“ geht vom 24. Juni bis 7. Juli 1995. Mehr als 5 Millionen Besucher kommen.

■ Am 17. Juni 2015 kündigt Christo die Dauerausstellung zur Verhüllung mit mehreren hundert Entwürfen, Plänen, Modellen, Fotos und Materialproben im September an. Wirklich öffentlich ist sie nicht. Nur spezielle Besuchergruppen können an Führungen durch die Kunstsammlung des Bundestags teilnehmen. (rola, dpa)

Sondern nur noch Raum für Events?

Das ist leider die Tendenz. Aber Sylvesterfeten am Brandenburger Tor oder Public Viewing auf dem 17. Juni machen das Publikum zu bloßen Konsumenten. Was uns fehlt, ist öffentlicher Raum, der zur Auseinandersetzung einlädt. Doch damit tat sich die Stadt immer schwer: Man genehmigt vielleicht noch das Temporäre, das Langfristige und Kontroverse scheut man.

Welche Projekte zum Beispiel?

Es gibt eine lange Liste toller Kunstprojekte, die nie verwirklicht wurden. Etwa Edward und Nancy Kienzolz’ Idee, auf dem Ernst-Reuter-Platz eine Autowaschanlage zu installieren, in der permanent Mercedes-Limousinen zu Schrott gescheuert worden wären. Oder das Konzept „Bus Stop“ von Renata Stih und Frieder Schnock, eingereicht beim Wettbewerb für das Holocaust-Mahnmals: Anstatt eines Mahnmals wären rote Busse abgefahren zu den realen Konzentrations- und Vernichtungslagern in der Umgebung. An authentischen Orten haben wir ja keinen Mangel. Aber man hat sich für das Symbolische entschieden.