„Ich brauch konkret gemachten Schweiß“

SCHAFFEN Der Ton ist für Charlotte Seither ein immaterielles Ding. Körperlos bewegt er sich im Raum. Wie die Komponistin das Ding zieht, knetet und pumpt – bis ein neues Stück moderne Klassik entsteht

■ Die Frau: Charlotte Seither, 49, ist Komponistin. Neben Komposition hat sie Klavier, Germanistik und Musikwissenschaft studiert und 1998 in Philosophie promoviert. Ihre Stücke werden weltweit aufgeführt, als nächstes etwa in Johannesburg und Venedig. Zusammengearbeitet hat sie unter anderem mit dem BBC Symphony Orchestra London, dem VocaalLab Amsterdam und dem SWR Vocalensemble Stuttgart. Charlotte Seither ist verheiratet und lebt in Berlin.

■ Das Werk: „Fünf Stücke um den Fluss zu queren“ und „Beschriftung der Tiefe von innen“ heißen zwei ihrer Orchesterwerke. Charlotte Seither interessieren besondere Klangphänomene, die sie bis ins Detail ausarbeitet. Sie ist vielfach ausgezeichnet worden – mit dem Deutschen Musikautorenpreis 2014 etwa, dem Rom-Preis Villa Massimo 2009, dem Praetorius-Musikpreis des Landes Niedersachsen – und oft Jurorin oder Referentin bei Wettbewerben und Symposien.

GESPRÄCH WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Seither, sind Sie die rebellische Tochter des Domorganisten von Speyer?

Charlotte Seither: Bin ich nicht.

Da macht es doch noch neugieriger, wie Ihr Weg vom pfälzischen Dorf, wo Sie aufgewachsen sind, zur preisgekrönten Komponistin war.

Ja, Rülzheim – katholisch, bürgerlich, mit Geschütztheit, Enge und Natur – für ein Kind nicht schlecht. Ich finde es angenehm, dass ich musikalisch nicht vorbelastet war und es keinen Erwartungsdruck gab, obwohl meine Eltern Lehrer waren. Sie waren einfach fördernd. Sie hätten mich genauso gefördert, wenn ich Fußballspielerin oder Friseurin hätte werden wollen.

So vorbehaltlos?

Aus heutiger Sicht sehe ich, wie kostbar es für mich war, dass meine Eltern nie ein Urteil abgegeben haben. Ich habe eben immer geschrieben, sie haben nie beurteilt, was das jetzt ist, sie haben auch nie das Wort „komponieren“ verwendet.

Sondern?

Sie sagten: Die Charlotte spielt ein Stück; sie macht ein Stück, oder sie erfindet Musik. Je weniger mir klar war, was das ist, was ich mache, desto unbedarfter konnte ich es tun. Heute ist das anders. Da sind die Ansprüche selbst an 15-Jährige viel höher als damals. Ich bin oft in Jurys von Kompositionswettbewerben, auch Nachwuchswettbewerben, das gab es zu meiner Zeit nicht. Es ist gar nicht einfach für die Kinder, die so extrem früh gefördert werden und wo jeder Schritt evaluiert wird.

Auf Ihre Kompositionen angesprochen, antworteten Sie einmal: Jeder Ton ist ein Raum. Sehen Sie den Ton wirklich als Raum?

Ich sehe Töne nicht, aber ich nehme sie wahr, erkenne sie, greife sie. So ein Ton ist – in dem Augenblick, in dem er gedacht wird – irgendwie ein sich im Raum versteckendes Objekt und es ist gar nicht so, dass das für mich ein Ton ist. Verstehen Sie, wenn ich jetzt auf dem Klavier einen Ton anschlage, dann ist das ja konkret, der fängt da an und hört da auf und hat die Tonhöhe und das kann man messen und das ist ganz klar physikalisch begrenzt. Aber für mich ist es oft eine Schwierigkeit im Arbeiten, dass ich einen Ton als etwas sehe, das eine Bewegung hat, das auf eine bestimmte Art in den Raum und in meine Wahrnehmung hineindrückt. Es kann eine Gravitation haben, dong machen, auf dem Boden liegen bleiben, weil es wie Blei anploppt, oder von unten erhitzt werden und nach oben steigen. Beim Zugucken denke ich gar nichts. Erst im zweiten Moment versuche ich herauszufinden, was es ist und wie es reinkommt und wo es hinschlabbert und ob es schwer oder leicht ist, ob es sich hinsetzt oder ob ich es drücken muss und ob es da sitzen bleibt oder sofort wieder hochspringt.

Wenn Sie das so beschreiben, klingt es eher wie ein abstrakter Film.

Ich habe beim Komponieren immer das Gefühl, ich habe hier zehn Finger und das, was sich abspielt, ereignet sich vorne an den Fingerspitzen, und ich knete mit ihnen an diesem Ding und dann ziehe ich es und stauche und pumpe es da so rein, dann springt das Ding wieder hoch und dann sage ich, nein, du musst unten bleiben. Ja, das ist wie ein abstrakter Film von irgendwelchen Gasen, die verblubbern und man versucht das abzubilden in einer Art von Notenschrift, was immer völlig vereinfacht ist.

Erleben Sie Musik demnach innerlich und die Komposition ist der Versuch, diesen innerlichen Film zu beeinflussen?

Genau. Der Animationsfilm, der läuft bei mir immer. Ich glaube sogar, dass dieser Animationsfilm bei allen Menschen so oder ähnlich abläuft, nur sind vielleicht nicht alle gleichermaßen darin geübt, ihn hochzuholen oder in was anderes zu übersetzen. Ich mag diesen inneren Film extrem gerne, ich lebe gerne mit mir und diesem Film, ich brauche oft gar nichts anderes.

Das hört sich an, als lebten Sie in einem Zustand, der vor dem Hören liegt. Das, was dann wirklich zu hören ist, ist eigentlich schon wieder Vergangenheit.

Ja. Dieses Vorhören hat unterschiedliche energetische Zustände. Es gibt Situationen, in denen man komponieren muss, etwa weil Sie eine Deadline für ein Auftragswerk haben und Sie spüren, der Film ist weit weg und extrem unklar und hat noch sehr wenig Energie und Sie müssen den irgendwie ansaugen und anenergetisieren. Und dann gibt es wieder Zustände von extremer Erregung und Sie sind von dem Film übermannt. Ich kann mich an ein Stück erinnern, das ich gemacht habe, das intensivste, das ich je gemacht habe, es heißt …

(sie sagt den Namen, und der klingt wie: Ophelias Scham.)

Ophelias Scham?

Nein, „Object diaphane“ – durchscheinendes Objekt. Aber „Ophelias Scham“ ist auch gut. Ich erinnere mich noch an den Arbeitsprozess an diesem Stück und wie ich eines Tages im Kaufhof in der Umkleidekabine stand und es mich so derartig von einem Moment auf den anderen angeflasht hat mit der Idee zu diesem Stück, dass ich sofort nach Hause musste, um diesen hochenergetischen Zustand am Notenpapier abzubauen. Das ist wie ein Trieb, wie eine emotionale Überladung. Wird sie nicht abgebaut, geht unglaublich viel verloren.

Haben Sie ein schönes Leben, weil Sie das so machen können?

Weiß nicht, ob ich das so sagen würde. Es gibt einfach eine intensive Kommunikation mit dem, von dem ich nicht weiß, wie man das nennen könnte. Vielleicht „Lato obscuro“ – die dunkle Seite. Es gibt irgendetwas, das viel spannender ist, mich zufrieden machender ist als das, was ich denken kann. Mehr kann ich darüber nicht sagen. Allerdings müssen Sie um jeden dieser Zustände unglaublich ringen. Und dann ist es noch mehr Arbeit, daraus ein Stück zu machen wegen dem ganzen Drumherum.

Mit Drumherum meinen Sie den Alltag, das Geldverdienen?

Ja, ich bin Freiberuflerin, lebe vom Komponieren. Das ist ein extremes Privileg, es zu können. Aber es bedeutet auch, dass man die Situation nie komplett geschenkt kriegt, es erfordert sehr viel Kraft, sich immer wieder in den Mechanismen des Freiberufs zu bewegen.

Warum ist es so anstrengend?

Wenn Sie jetzt zu mir sagen würden, es kommt die Bingo-Fee und die fragt, was wünschen Sie sich, würde ich sagen: Ich wünsche mir fünf Orchesteraufträge von den besten Orchestern der Welt. Cleveland Symphonie Orchester, London Philharmonic Orchestra – in der internationalen Liga. Die Realität ist, dass Sie vielleicht ein Stück realisieren können und dabei mit Besetzungen konfrontiert sind, die mit Ihren Ideen kollidieren. Ich liebe große Orchester, aber sie stehen mir meist nicht zur Verfügung.

Sie komponieren trotzdem für große Orchester. Bekannt ist eher das Gegenteil: Weil Frauen meist gar nicht damit rechnen können, dass ihre Stücke aufgeführt werden, komponieren sie Kammermusik.

Im 19. Jahrhundert war das so. Gruselig, sich vorzustellen, wie Komponistinnen wie Fanny Mendelssohn und Clara Schumann gelebt haben. Die konnten eigene Stücke in Sonntagssoireen vorstellen. Ein Streichquartett, mehr passt nicht in die Wohnung, und dann laden Sie zwanzig Adlige ein und das war’s. Ich glaube nicht, dass sich die Frauen freiwillig selbst beschränkt haben; sie waren einfach mit der Frage konfrontiert: Schreibe ich ein Orchesterstück für die Schublade oder ein Streichquartett, das gespielt wird? Die Vorstellung, für die Schublade zu schreiben, ohne dass Sie einmal erlöst werden, das ist für mich unerträglich. Das ist schlimmer, als Kafka das erleben musste. Der konnte seine Texte wenigstens noch Max Brod vorlesen, und der konnte sagen: Ich find’s toll. Es macht mich nichts mehr an als die Erotik des realen Klangs. In der Probe zu sitzen und beim Geigensolostück einen tollen Musiker vor mir zu sehen, die Violinistin Hannah Weirich zum Beispiel – wie sie denkt, wie sie das Stück gliedert, wie sie das macht, das ist toll. Ich brauche diesen konkret gemachten Schweiß.

Sehen Sie beim Komponieren schon die Aufführung vor sich?

Oft weiß ich schon, wer das spielt, und ich liebe es, mir im Komponieren den Körper des Musikers vorzustellen, was er kann, wie er sich bewegt. Ich denke schon im Körper der Spielerin oder des Spielers.

Eine Art Verschmelzung?

Auf geistige Weise: ja.

Das ist tatsächlich erotisch.

Es ist für mich wunderschön, den gemachten Klang auf der Bühne zu erleben. Jeden Musiker gibt es so, wie er ist, nur einmal, und er ist dann richtig gut, wenn es ihm gelingt, seine Einmaligkeit in seinem Musizieren zu pointieren. Wenn Sie sehen, wie jemand schwitzt, wenn sie die Bewegung der Hand sehen, der Lungen, des Körpers. Wenn der Körper in der Anstrengung ein Tier wird. Die spannendsten Musiker sind die, deren inneren Ton Sie erkennen, wo Sie eine Geste spüren, wo die Leute auf der Bühne stehen und Sie müssen hingucken.

Sie suchen Eigenwilligkeit.

Jahrhundertelang wurde trainiert, dass in Orchesterstücken zwölf Bratschen, die ein E spielen, sich anhören, als spielte nur eine Bratsche das E. Gut, ich bin auch froh, dass nicht alles Kraut und Rüben ist, aber ich habe schon Stücke komponiert, in denen kein Instrument genau das Gleiche spielt wie das andere. Beim Auftragsstück, das zur Eröffnung des Kleist-Jahres entstand, sind zwanzig Streicher und jeder ist an einer anderen Stelle im Raum gedacht und jeder hat seinen höchst solistischen eigenen Teil.

Verlangen Sie den Instrumentalisten viel ab?

Natürlich. Ich behandle jeden Streicher als Solisten, keiner kann sich am Nachbarn festhalten, jeder muss in seiner Identität gefestigt sein. Mich interessiert diese Art von Individualisierung bei Musikern und Sängern. Bei Sängern ist das noch klarer, denn jeder hat einen eigenen Klang, einen eigenen Ton, eine eigene Diktion, einen eigenen Körper, jeder verändert sich auch noch im Laufe der Zeit. Ich arbeite gerne mit Sängern, die nicht ins klassische Klischeemuster passen. Etwa mit älteren Frauen. Es gibt in der klassischen Musik sehr wenig Platz für ältere Frauen – ganz im Gegensatz zu älteren Männern. Ein Dirigent über 80 ist kein Problem. Sie werden aber kaum eine Achtzigjährige auf der Bühne finden.

Was zeichnet die Stimme einer älteren Frau aus?

Sie hören nicht nur, dass die Stimme anders klingt, sondern es gibt auch bestimmte Übergänge, bestimmte Geschmeidigkeiten und Ansprachpunkte, die sich nicht mehr ereignen. Ich habe lange mit einer Sängerin zusammengearbeitet, mit der ich noch im Alter von 60 und 65 Stimmexperimente gemacht habe.

Heißt das, Sie haben Brüchigkeiten der Stimme in die Komposition einbezogen?

Es gibt ein Stück, das ich dezidiert so gebaut habe, die One-Woman-Opera. Ich habe sie für Christina Ascher geschrieben, die bei der Uraufführung kurz vor 60 war, ich mag diese Stimme sehr. Im allerersten Satz kommt sie auf die Bühne und sagt: „Ich sehe heute nicht gut aus.“ Das möchte ich nicht von einer 28-Jährigen, die aussieht wie Claudia Schiffer, gesprochen haben. Ich würde mir wünschen, dass wir ganz selbstverständlich mehr Diversität auf der Bühne haben. Ich wünsche mir die große Weisheit der Geigerinnen über 60, die Weisheit der Pianistinnen über 60 oder 70. Wir haben sie von den Männern, man spricht ihnen Reife und Weiterentwicklung zu – egal wie sie körperlich aufgestellt sind, aber leider begegnen uns die reifen, weisen Frauen nicht mehr auf der Bühne.

Der Umgang mit Frauen im Musikbusiness ist nicht gut. Frauen dürfen interpretieren, aber als Kreierende tauchen sie seltener auf. Von 1.350 Leuten im Komponistenverband sind kaum fünf Prozent Frauen. Und es gibt immer noch Jahresprogramme von Philharmonien, die kommen aus, ohne ein einziges Werk von Frauen aufs Programm zu setzen, und es ist kein Skandal.

Es muss aber einer werden.

Sie haben einmal gesagt, man muss zerstören, um zu erkennen. Wie machen Sie das in Ihrer Musik?

Erkenntnis bekommt man nicht geschenkt. Ich glaube, es gibt bestimmt Dinge, die kriegt man nicht geschenkt. Freiheit zum Beispiel, die muss man sich erarbeiten, Erkenntnis auch. Um sich das zu erarbeiten, muss man auch zerstören können und Dinge hinter sich lassen.

Was haben Sie hinter sich gelassen?

Musikalische Traditionen, aus denen ich komme, bestimmte Vorstellungen, die von Lehrerfiguren geprägt sind. Und es gibt bestimmte Ideen im eigenen Denken, die man hinter sich lassen muss. Denken ist ja wie was Vegetales, das so wuchert. Sie müssen manchmal einen Ast abschlagen, damit ein anderer stärker wird.

Fordern Sie Rebellion?

Ja, die ist nötig. Ich merke, wenn ich die nicht genügend ausübe, dann komme ich in meiner Arbeit nicht weiter. Man muss von Zeit zu Zeit diese Ringe abwerfen, den Panzer abstreifen, dieses Aufbegehren und Revoltieren, um sich wieder neu orten zu können. Man muss sich häuten, es ist schmerzhaft, verlustreich, existenziell bedrohlich. Denn jede Zeit, in der ich nicht schreiben kann, bin ich natürlich auch existenziell brotbedroht.

Wie kommt die Rebellion dann wieder in die Musik?

Es gibt Stücke, die beginnen mit einem Bogen, brechen plötzlich ab und spannen einen ganz anderen Bogen. Der andere Bogen spannt sich dann eine Weile durch ein paar nachfolgende Stücke, bis es wieder einen Bruch gibt. Wenn Sie bestimmte Dinge tun, die sehr gut funktionieren und zu tollen Ergebnissen führen, steckt die Gefahr drin, dass man sich darauf verlässt. Dann muss man den Schritt tun, sich davon wieder zu trennen. Das ist nicht einfach. Sie verzichten dabei immer auf Sicherheit. Mein Credo ist nicht, mit jedem Stück Tabula rasa zu machen, aber ich gehe Risiken ein, um mich weiterzuentwickeln.

Sie komponieren, was man moderne Klassik nennt. Was bedeutet modern?

Das Moderne ist, dass es sich nicht mehr erklären lässt mit den traditionellen Parametern, mit Dreivierteltakt und G-Dur und mit irgendwelchen Formmodellen, sondern dass jedes Stück eine ganz eigene Harmonik und Syntax hat, die nur für dieses Stück gefunden ist. Man kann es nicht in einer anderen Tonleiter einfach variieren. Das geht in der modernen Klassik gar nicht mehr. Weil wir den Anspruch haben, mit jedem Stück eine komplett neue Denkung zu schaffen. Das ist doch das Spannende. Ich will ja nicht irgendwas produzieren wie ein Ziegelbrenner, wo man sagt, hier ist der Lehm und der Brennofen und die Form und jetzt versuche ich in einer bestimmten Zeit so viele Ziegel wie möglich zu brennen. Unsere Idee des 21. Jahrhundert ist doch das Hochleben des Unikats, der Handschrift, des Unverwechselbaren.

Mit der sozialen Folge großer Einsamkeit?

Gemischt. Es gibt schon eine sehr große Kraft in der Community. Ich bin sehr gerne bei Proben, und ich bin im Laufe der Zeit Ensembles und Solisten begegnet, die enge Freunde geworden sind – da kann ich nicht mehr trennen zwischen Freund und Musiker.

Wie ist es mit Konkurrenz?

Natürlich gibt es in der Community auch Reibung. Und klar, Einsamkeit auch, wenn Sie wochenlang am Tisch sitzen und an einem Stück verzweifeln.

Ist moderne Klassik eine Nische?

Kultur ohne Nische würde sich nicht entwickeln, weil die Reibung fehlt. Die Frage, wie viel Leute das hören, was ich mache, beschäftigt mich nicht so sehr. Ich beschäftige mich ja auch nicht damit, wie man einen Blinddarmdurchbruch behebt, obwohl es eine wichtige Kulturleistung ist, dass es das gibt. Das Denken, dass Kultur evaluiert werden muss und es eine Nutzungsquote geben soll, die darüber entscheidet, ob etwas gut ist oder nicht, diese Evaluierungsmaßnahmen, die immer an Profit geknüpft sind, dieser McKinseyanismus des 21. Jahrhunderts, den halte ich für fatal. Kultur darf nie, niemals von der Frage der Verkaufbarkeit, Multiplizierbarkeit oder Handelbarkeit bestimmt sein. Kultur hat sich immer darüber definiert, dass etwas vollkommen idealistisch ins Gras gesetzt wurde.

Okay, jetzt ist klar, was das Moderne an der moderne Klassik ist. Aber was ist das Klassische an ihr?

Die Apparate und Orte, die Sinfonieorchester, die Streichquartette, die Sänger. Ich komme aus der traditionellen Klassik. Ich bin klassisch ausgebildet mit Beethoven-Klaviersonaten, ich liebe die Klassik, ich tanke mit nichts mehr auf wie etwa mit einer Johannespassion von Bach. Ich brauche das, weil es mich seelisch ernährt.

Wie andere Helene Fischer?

Ja. In bestimmten Abständen muss ich in die Philharmonie, mir ’ne Bruckner-Sinfonie anhören oder so. Ich bin abhängig vom real gemachten Klang. Es gibt Komponisten, die brauchen das nicht, die haben nicht einmal ein Klavier im Haus, für mich unvorstellbar.

Ist es, weil Sie eine Nuance mehr hören?

Mich ernährt die Gegebenheit, wie ein Geiger durch pure Physik Klang herstellt. Einmaligen Klang. Nur einmal so zu hören. Diese Vanitas, dass jeder Augenblick auch seinen Tod in sich hat, das fasziniert mich zutiefst.

Was macht moderne Klassik für viele so anstrengend?

Ich kann es Ihnen nicht beantworten, weil ich sie ja liebe. Wobei ich Ihnen sagen kann, wenn ich zu Hause bügle, dann kann ich auch keine Klassik hören.

Waltraud Schwab ist Redakteurin der taz.am wochenende und liebt Dissonanzen