Poetische Kondensate

FILMGESCHICHTE Wie kaum ein anderer hat Klaus Wildenhahn Technik und Ästhetik des bundesrepublikanischen Dokumentarfilms geprägt. Am Montag ist er zu Gast im Kino Arsenal

Wildenhahn hat sich statt im Getöse spektakulärer Dramen im Alltäglichen verortet

Ende des Jahres wird „Anne Will“ auf den freiwerdenden ARD-Sendeplatz von „Günther Jauch“ am Sonntagabend wechseln. Vor ein paar Tagen rief die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm dazu auf, an dem dadurch frei werdenden Termin am Mittwochabend endlich auch im Ersten wieder einen regelmäßigen Ort für Dokumentarfilme einzurichten. Und damit sind nicht durchformatierte Programme wie „#Beckmann“ oder „Die Story“ mit ihrer rhetorischen Reisender-Reporter-Attitüde gemeint, sondern Filme, die wirklich auf Entdeckungsreise gehen.

Einer der glaubwürdigsten Regisseure dieser Tradition ist der in Bonn geborene und in Hamburg und Ostende lebende Klaus Wildenhahn, selbst Mitglied der AG Dok und Jahrzehnte an verschiedenen Orten als Filmemacher, Lehrer und kämpferischer Theoretiker eines emphatisch verstandenen Dokumentarfilms unterwegs, der sich statt im Getöse spektakulärer Dramen eher im unscheinbaren Dazwischen des Alltäglichen verortet: Eine Arbeitsweise, die er bei einem Interviewbeitrag mit dem britisch-amerikanischen Direct-Cinema-Regisseur Richard Leacock für den NDR kennen und lieben gelernt hatte.

Denn Wildenhahn war auch Fernsehredakteur, zu einer Zeit, als in den von den alliierten Mächten gerade neu aufgebauten Sendern noch Pioniergeist herrschte und echte Abenteuer nicht nur möglich, sondern gefordert waren. Mit Beziehungen und ein paar selbst geschriebenen Gedichten im Koffer hatte sich der abgebrochene Student und ehemalige Krankenpfleger 1959 beim NDR beworben und wurde gegen alle Erwartung gleich eingestellt. Eine heute so paradiesisch wie fern anmutende Welt, die Wildenhahn immer wieder gern beschrieb: „Das Fernsehen baute auf, da konnten auch Angelernte, Halbgelernte, Spinner unterkommen. Fast als gäbe es eine geheime Quotenregelung für Traumtänzer.“

Bei Werbe-Einspielern für die Fernsehlotterie und dann als Realisator für „Panorama“ durfte er das Filmhandwerk lernen, bevor er 1964 in die Fernsehspielredaktion wechselte. Dort und in anderen Abteilungen des NDR realisierte er bis zur Verrentung über vierzig lange und kurze Dokumentarfilme: Eine heute unvorstellbare Kontinuität, die auch enorme Unabhängigkeit in Themenwahl und Methode bedeutete. Doch mit seinen langen, frei improvisierten Dreharbeiten war Wildenhahn auch schon damals eine provokante Ausnahme im bieder gestrickten öffentlich-rechtlichen TV. Das zeigen auch die öffentlichen und senderinternen Querelen um die gemeinsam mit Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen realisierte Dokumentation „Emden geht nach USA“, die die Schließung des Emdener VW-Werks begleitete. Dass die Filmemacher für ihre Arbeit den Grimme-Preis erhielten, billigte der Sender ausdrücklich nicht.

Am 19 Juni wird Klaus Wildenhahn 85 Jahre alt, und der zu diesem Anlass im Arsenal präsentierte Film mit dem schönen Titel „Im Norden das Meer, im Westen der Fluss, im Süden das Moor, im Osten Vorurteile“ knüpft 1976 als letztes poetisch kondensiertes Kapitel einer Ostfriesland-Pentalogie an das Emden-Stück an und befragt neben der prekären Gegenwart auch die Geschichte der Landschaft, von Landarbeitern und Mägden. Der rhythmische Akzent der von Wildenhahn selbst eingesprochenen lakonischen Begleittexte evoziert dabei (Musikalität ganz ohne Musiksoße!) die Gedichte, die Wildenhahn nach dem Schwinden der Energie für die mühselige Filmarbeit im Alter vermehrt schrieb und von denen einige neben anderen Texten in dem kürzlich erschienenen Bändchen „Abendbier in flacher Gegend“ versammelt sind. Denn die Improvisation im Zweierteam ist auch extrem anstrengend, besonders, wenn man wie Wildenhahn auf analogem und deshalb knappem 16-mm-Material dreht. Deshalb hat er nach 1995 mit „Ein kleiner Film für Bonn“ nur noch eine einzige (digitale) Arbeit gedreht. Ein Stück zum Hauptstadtumzug und passender Schlussakzent für einen Filmemacher, dessen Schaffen sich im Rückblick als atmosphärisch kongeniale Begleitung der Epoche zwischen euphorisiertem westdeutschen Nachkriegsaufbruch und dem Niedergang der Arbeiterbewegung lesen lässt. Im Sound seiner Texte lebt seine Auseinandersetzung mit der verschwundenen Welt zwischen AFN und Kohldampfküchen ins Heute fort.

SILVIA HALLENSLEBEN

■  „Im Norden das Meer, im Westen der Fluss, im Süden das Moor, im Osten Vorurteile“. Arsenal, 22. Juni, 19 Uhr, Gast: Klaus Wildenhahn, Einführung: Hans Helmut Prinzler ■ Klaus Wildenhahn: „Abendbier in flacher Gegend“, Filmtheorie Nr. 4, Berlin 2015, Verbrecher Verlag