Unterwegs im Solarboot

POP Der Musiker Lüül bereist auf seinem Album „Wanderjahre“ sein eigenes Leben zwischen Krautrock, Neuer Deutscher Welle und inzwischen der Band 17 Hippies. Am Freitag stellt er es in der Hafenbar Tegel vor

VON THOMAS WINKLER

Früher war nicht alles besser. Aber es war anders. Manchmal täuscht einen vielleicht auch bloß die Erinnerung. Aber es gab mal eine Zeit, da lief eine Mauer quer durch die Stadt, Westberlin war eine Insel und „die Welt war zu Ende am Checkpoint Charlie“. Die Kinder können das gar nicht mehr glauben, so wie sie nicht glauben können, dass früher nicht jeder Fünfjährige ein Handy hatte und viele, in der anderen Hälfte der Stadt, noch nicht einmal einen Festnetzanschluss. Deshalb muss man ihnen das immer mal wieder erzählen. Jetzt kann man ihnen auch „West-Berlin“, den ersten Song von „Wanderjahre“, dem neuen Album von Lüül, vorspielen. Oder besser: aufs Handy laden.

Dann können sie nachhören, wie sich das anfühlte damals. „Unser Meer war der Wannsee, unsere Insel Westberlin“, singt Lüül, „alles war möglich, wenn die Sonne schien.“ Dazu jammert eine Bratsche, die Gitarre klingt nach Lagerfeuer und in der brüchigen Stimme hört man all die Narben an, die ein halbes Jahrhundert Musikerleben auf den Stimmbändern hinterlassen haben.

Wesentliche Figur

Lüül, das ist Lutz Ulbrich, geboren 1952 in Charlottenburg, nie ein Star, aber wenn schon keine Legende, dann doch auf jeden Fall eine nicht unwesentliche Figur in der Geschichte der deutschen Popmusik. Denn Ulbrich war fast von Anfang an dabei. Schon Mitte der Sechzigerjahre spielt der Gitarrist noch als Schüler in ersten Beatbands. Er ist 15 Jahre alt, als er mit Freunden The Agitation gründet, aus denen Agitation Free werden sollte, eine der ersten Krautrockbands, später spielt er bei Ash Ra Tempel. 1973 verliebt er sich in die damals schon berühmte Nico, ist als ihr Liebhaber und Gitarrist jahrelang mit der Ex-Sängerin von Velvet Underground unterwegs. In den Eighties bindet er sich eine dünne Krawatte um, findet kurzzeitigen kommerziellen Erfolg im Fahrwasser der Neuen Deutschen Welle und gründet das Rocktheater Reineke Fuchs. 1995 ist er dabei, als das Musikerkollektiv 17 Hippies entsteht, bis heute spielt er dort Banjo. Er hat eine Autobiografie geschrieben, zehn Solo-Alben aufgenommen und auf unzähligen anderen mitgespielt.

Und jetzt „Wanderjahre“. Das Album ist wie eine kleine Reise durch dieses Leben. Zum Auftakt setzt Lüül seinem alten, untergegangenen Westberlin ein Denkmal. Aber er singt auch „Das Lied vom einsamen Mädchen“ neu ein, jenes Stück, das in der Version von Hildegard Knef bekannt wurde und das Nico dann später zu ihrem Lied gemacht hat. Auch „Morgens in der U-Bahn“ taucht auf: Lüüls Neuer-Deutsche-Welle-Hit, einst ein eher monotones, unterkühltes Stück New Wave, wird zum hingehuschten, mit Akkordeon und viel Wärme ausgestatteten Mitsumm-Song fürs Lagerfeuer. Selbst das gar nicht fernöstlich klingende „Shibuya“, eine sentimentale Erinnerung an an das Vergnügungsviertel in Tokio, ist autobiografisch insofern Ulbrich mit den zwischenzeitlich wiedervereinigten Agitation Free 2007 ins krautrockbegeisterte Japan eingeladen war.

So geht es fröhlich weiter. Dass die Mitglieder von Lüüls Band sonst auch bei den 17 Hippies mitspielen, das kann man hören, wenn sie alte Songs und neue Songs und ganz alte Songs spielen, mit denen Lüül seine eigene Geschichte abschreitet. Hier wie dort entsteht zwischen Chanson und Rock, Balkan und leisen Weltmusik-Einflüssen ein ganz eigener Hybrid. Musikalisch sind die 17 Hippies zwar breiter aufgestellt, aber beiden Inkarnationen ist eine feine, nicht immer offensichtliche Melancholie eigen.

Vor allem aber bekommt man mit „Wanderjahre“ eher einen Eindruck, wie ein Mensch so durch bewegte Zeiten geht, als in Lüüls 2006 erschienener Biografie. In der zeichnete er zwar minutiös Nicos und seinen Heroin-Konsum nach, registriert jedes Treffen mit Prominenten von Lou Reed bis David Bowie, und vergaß nicht einmal Gema-Ausschüttungen aufzulisten. Aber die alten Zeiten, die wurden auf den vielen Seiten lange nicht so lebendig wie in manchen Liedern, die er schreibt und singt.

Diesem langen, irisierenden Leben, das schon seit Jahren in seiner Geburtsstadt Berlin zu relativer Ruhe gefunden hat, fügt Lüül nun mit ein neues Kapitel hinzu. Weniger mit dem neuen Album, das doch sehr retrospektiv geraten ist, aber doch mit der schönen Idee, wie dieses Album vorgestellt wird. Am Tag nach der Record-Release-Party bricht Lüül mit seiner Band auf zu einer kleinen Tournee. Die allerdings wird nicht wie üblich mit Bandbus stattfinden, sondern mit einem Solarboot. Von Sonnenenergie getrieben geht es die Havel entlang durch Brandenburg, angelegt und gespielt wird in Orten wie Werder oder Caputh. Letzte Station der Tour ist Strodehne, kurz danach fließt die Havel in die Elbe und die Elbe mündet irgendwann ins Meer. Nein, die Welt ist nun wirklich nicht mehr zu Ende am Checkpoint Charlie.

■ Lüül & Band: „Wanderjahre“ (M.I.G./SPV); Record-Release-Party: 19. Juni, 21 Uhr, Hafenbar Tegel, weitere Termine: www.luul.de