WIE MAN URBANE JÄGER, FASHIONISTAS, ALTE MITLÄUFER ODER GOTH LOLITAS ERKENNT: Hipster-Raten in der Weserstraße
TILMAN BAUMGÄRTEL
Im ersten Sommersonnenschein sitze ich mit meinen Töchtern vor der Eisdiele in der Weserstraße. Wir essen Maracuja-Sorbet und gucken den Passanten nach. Seit diese Magistrale Nordneuköllns zur Grande rue des internationalen Hipstertums geworden ist, gibt es hier immer etwas zu sehen. Die längsten Vollbärte, die engsten Röhrenjeans, die beknacktesten Tätowierungen, die hässlichsten Zwergpinscher: Alles passiert hier live und zum Greifen nahe, während wir uns auf der Holzbank vor der Eisdiele lümmeln.
Jeder will anders aussehen als die anderen, was dazu führt, dass am Schluss doch wieder alle irgendwie gleich aussehen. So gleich, dass aufmerksame Boheme-Anthropologen schon ganze Bücher damit gefüllt haben, die Hipster-Typen der Gegenwart zu kategorisieren.
Eines dieser Bücher liegt derzeit auf meinem Nachttisch: „Hipster. Eine Typologie“ von der US-amerikanischen Journalistin Kara Simsek, die unter anderem für Vice und Dazed & Confused schreibt. Das Buch ist in dem – in diesen Presseorganen üblichen – schnoddrigen Ton gehalten. Und in diesem Stil werden hier 50 verschiedene Archetypen der Boheme-Mode der Gegenwart verzeichnet, vom „Urbanen Jäger“ (Vollbart, Holzfällerhemd, Wollmütze) bis zur „Kunsthandwerkerin“ (selbstgenähte Kleider mit floralen Mustern, „witzige“ Haarspangen, 50er-Jahre-Schmetterlingsbrille).
Mit Inbrunst
A. studiert das Buch als Bettlektüre mit religiöser Inbrunst. So wie sie sich mit ihren zwölf Jahren und langsam entwickelndem Modebewusstsein auch die Hipster-Bräute, die mit einem Pappbecher Macchiato in der Hand die Weserstraße entlangflanieren, genau ansieht und deren „Style“ zu imitieren versucht. Na ja, besser als sich die Hungerhaken aus „Germany’s next Top Model“ zum Vorbild zu nehmen.
A. hat die verschiedenen Hipster-Typen aus dem Buch so gut verinnerlicht, dass sie einige von ihnen gleich wieder erkennt, wenn typische Vertreter auf dem Trottoir an uns vorbeiziehen oder mit dem Tretroller vorbeieiern. Der „Skateboarder“ – na gut, das ist nicht schwer, der brettert halt mit einem Skateboard die Straße lang. Die „Goth Lolita“ – schon schwieriger. Aber das Mädchen mit schwarzgefärbten Haaren und viel Kajal um die Augen, blassem Gesicht und trotz Sonnenschein im langen, schwarzen Ledermantel, aus dem unten netzbestrumpfte Beine ragen, die in Springerstiefeln münden – das ist ein klarer Fall. Ich schlage A. ein Spiel vor, das ich gerade erfunden habe: Hipster-Bingo. Wer drei von den Typen aus dem Buch beim Vorbeigehen erkennt, hat gewonnen. Das geht schneller als erwartet. Gleich das nächste vorbeidefilierende Mädchen wird von A. zur „Fashionista“ erklärt. Moment mal, Hotpants, ein nabelfreies T-Shirt mit einem fotorealistischen Delfin darauf und Plastikblumen in den Haaren, die zu einem Dutt auf dem Oberkopf zusammengebunden sind – das soll der letzte Schrei sein? A. weist auf die „übertrieben großen“ Plastikohrringe hin. Also gut, ein Punkt, mit Mode kenne ich mich nicht aus.
Dafür gehört der Kerl, der beim Laufen auf seinen Tablet-Computer starrt wie das Kaninchen auf die Schlage, glasklar zur Spezies „Social Media Typ“. Mein Punkt. A. entdeckt an der Ecke Reuterstraße ein Pärchen der Gattung „Rockabilly und Rockabella“: er mit Schmalztolle, Lederjacke und Levi’s-Jeans in Cowboy-Stiefeln, sie im Petticoat, mit roten Pumps, Pferdeschwanz und tätowierten Oberarmen. (Dass Rockabilly eigentlich ein Musikstil ist, weiß A. noch nicht.) Ob der unscheinbare Typ, der als nächster vorbei schlurft, der Gattung „Blogger“ oder „Grafikdesigner“ zuzuordnen ist, kann nicht geklärt werden. Oder „Praktikant“? Na ja, Praktikanten sind hier wahrscheinlich alle. Um kein Spielverderber zu sein, akzeptiere ich, dass der Geselle mit den hauteng sitzenden Leopardenmuster-Hosen und Heavy-Metal-Muscle-Shirt, der auf einem Rennrad vorbeidüst, ein „DJ“ sein muss. A. hat gewonnen. Vielleicht ist es gut, dass wir an dieser Stelle aufhören. Sonst fällt ihr auf, dass ich auch wie ein Typ aus diesem Hipster-Kompendium aussehe – der „Alte Mitläufer“ nämlich.
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