Das ganze Rumgemache

GEFÜHLE Über die Liebe grübeln: Katrin Seddig schreibt einen Roman über vier unzufriedene, aufgeregte Frauen und einen zufriedenen, kugeligen Mann. „Eine Nacht und alles“

Was ist eigentlich die Liebe? Eine Lüge, ein fauler Kompromiss, glaubt Yasemine und denkt laut: „Und wenn ich die sehe, die sich angeblich lieben, mit dem ganzen Rumgemache, dann könnte ich, ganz ehrlich, dann könnte ich kotzen. Die lügen doch nur. Die bilden sich das alles ein, weil sie … weil sie nicht alleine sein wollen.“

Yasemine, lang, dünn und beeindruckend in ihrer Schönheit des Unfertigen, ist längst nicht die Einzige, die in Katrin Seddigs Roman „Eine Nacht und alles“ über die Liebe grübelt. Da ist Irene, die von Ausbruchsfantasien ergriffene Hauptfigur des Romans, die ihre Ehe mit dem Lehrer Per für solch einen faulen Kompromiss hält. Ihre Bewegungen weg von Per, lange Autofahrten zur weggezogenen Tochter, heimliche Treffen mit einem Liebhaber, strukturieren den Roman. Doch das Eigentliche passiert nie dort, wo sie hinwill, sondern am Rande der Strecken. So wie die Begegnung mit Yasemine, die sie an einer Tankstelle aufliest. Und was Irene erlebt und erleben will, das findet sie in den Gedanken des jungen Mädchens gespiegelt.

Der Roman über die unzufriedenen Frauen, zu denen man auch noch Irenes Freundinnen Sarah und Patrizia zählen kann, hat einen heimlichen Schwerpunkt. Das ist Per, ein scheinbar zufriedener Mann, etwas übergewichtig, stets an seinem Schreibtisch anzutreffen. Man stellt sich das beim Lesen tatsächlich irgendwann plastisch vor, wie er, ein bisschen kugelig, schwer wie ein Magnet in der Mitte ruht, derweil die Frauen, vom Verlust innerer Ruhe getrieben, hierhin und dorthin schießen. Und da ahnt man schon, dass, auch wenn Figuren und Handlungen ständig etwas anderes suggerieren, sein Beharrungsvermögen am Ende von größerer Anziehungskraft sein wird. Das ist das Beruhigende daran, wie Katrin Seddig erzählt: Etwas wie ein Netz, das die Abstürzenden auffangen wird, ist unter all den Aufgeregtheiten zu erahnen.

Das ist eine seltene und etwas verborgene Zuversichtlichkeit, die in diesem Erzählen steckt. Die Figuren sind sich ihrer selbst nicht sicher, sie trauen ihren eigenen Gefühlen nicht und betrachten sie als etwas immer wieder neu zu Deutendes. In ihrer Bereitschaft aber, nicht auf einer Wahrheit zu beharren, liegt eine Offenheit, die letztlich auch Veränderungen möglich macht. Auch in Katrin Seddigs drittem Roman berühren sich die Charaktere und der Erzählstil in der Vermeidung großer Gesten. Hier macht niemand einen großen Entwurf von sich selbst oder Karriere oder ein großes Drama. Sie lassen die Gelegenheiten Regie in ihrem Leben führen. Sie sind damit das Gegenteil von Selbstoptimierung und Selbstvermarktung, und das bringt ihnen Sympathie ein.

Wer das Buch mit Liebes- oder Lebenskummer liest, kann einen schönen Trost darin finden. Sein lakonischer Stil erdet. Vermutlich unterhält es auch ohne Kummer gut. KATRIN BETTINA MÜLLER

Katrin Seddig: „Eine Nacht und

alles“.

Rowohlt Berlin, Berlin 2015, 425 Seiten, 19,95 Euro