Hölderlin gegen manche Liebhaber verteidigt

LITERATUR Ins Offene der Gesellschaft, der Geschichte: Was Hölderlin einem Schriftsteller heute zuruft

Lieblingsklischee der Kulturdeutschen: dass die Dichter an den Verhältnissen leiden

VON MICHAEL KLEEBERG

Meine Frau hat einmal – es kann auch mehrmals gewesen sein – zu mir gesagt: „Für einen Künstler hast du ein Gemüt wie ein Fleischerhund.“

Man darf also daran zweifeln, ob ich der Richtige bin, um ausgerechnet über Friedrich Hölderlin zu sprechen. Aber wenn mir auch als Prosaautor eine gewisse Kälte eignet, eine Kälte des Überblicks, die beim Romanschreiben im Allgemeinen weiterträgt als zu viel Emphase, so habe ich doch auch zumindest zwei Texte anzubieten, die in dieser Frage zu meinen Gunsten sprechen:

Die ganze Novelle „Barfuß“ dreht sich um einen Menschen, der kurz gesagt, die „objektive Schwermut“ der Welt nicht mehr erträgt, der den Blick auf die „condition humaine“ aus Augen, deren Lider man entfernt hat, nicht durchhält und daher versucht, die eigene Identität aufzugeben, zu verlieren, abzuwerfen, und die Welt von sich sowie sich von der Welt zu befreien.

Und in meinem letzten Roman habe ich das Wort von der „sozialen Fontanelle“ geprägt, die sich bei den meisten Menschen irgendwann schließt. Das macht sie einerseits reifer und fähiger, den Herausforderungen des Tages zu begegnen und sie zu meistern, andererseits, wie der Erzähler nicht gänzlich ohne Bedauern feststellt, vermindert es auch ihre Fähigkeit zur Empathie und zur Emphase.

Prosaisch wie ich sein mag, habe ich mich doch immer für die Grenzbereiche des Humanen interessiert und selbst auch den einen oder anderen Ausflug über die Grenze unternommen. Dieser Limbus, den der Romanautor sowohl kennen sollte als auch meiden muss, ist die Heimat der großen Lyrik. Denn nur dort wachsen die Bäume, an denen die Bilder und Metaphern hängen, die ein Gedicht unvergesslich machen. Man betritt diese Räume jedoch nicht ungestraft, und vor allem gibt es keine schriftliche Garantie für eine erfolgreiche Rückkehr. Gewiss gab und gibt es große Dichter, die dort ernten konnten, wann immer sie wollten, und jedes Mal wieder den Grenzübergang zurück fanden. Johann Wolfgang von Goethe wäre ein solches Beispiel, der im Moment der größten Erschütterung in der Kutsche, die Marienbad verlässt, seinem Sekretär die druckfertigen Bögen seiner Elegie diktieren kann. Auch Goethe hatte in gewisser Hinsicht ein Gemüt wie ein Fleischerhund. Oder aber es gelang ihm das anatomische Kunststück, seine soziale Fontanelle lebenslang wie eine Art metaphysisches Schiebedach öffnen und wieder schließen zu können.

Splinching der Seele

Friedrich Hölderlin dagegen ist von einer der Ausfahrten dorthin, wo man SIEHT (in Großbuchstaben), nicht mehr so ganz zurückgekommen. „Splinched“ heißt der Fachausdruck bei Harry Potter, wenn beim Disapparieren ein Stückchen Körper zurückbleibt. Analoges gibt es aber auch bei der Seele.

Warum meine Gedanken, wenn ich vom Limbus und vom „Splinching“ spreche, nach Schwaben springen, sollen Psychologen erklären. Jedenfalls bin ich als Schüler eines württembergischen Gymnasiums vor Einführung der reformierten Oberstufe ganz selbstverständlich auch mit Friedrich Hölderlin in Berührung gekommen, dessen Geburtsort ja laut Google Maps nur 46,6 Kilometer von meinem entfernt liegt, und zu dessen Sterbeort wir natürlich von Böblingen aus mit dem Fahrrad durch den Schönbuch pilgerten, um uns dann aus dem Turmzimmer hinaus zu den knutschenden Pärchen am Neckarufer zu wünschen.

Die Schwaben haben ein pragmatisch-protestantisches Verhältnis zu ihren Genies, wie wir wissen. Sie überlassen sie ihrem Schicksal, bis sie unsterblich und tot sind, um sie dann in die Arme zu schließen, nach dem Motto: „Der Schiller und der Hegel, der Uhland und der Hauff, die sind bei uns die Regel, die fallet gar net auf.“

Ich glaube, es war die Konkretion in der Naturbeschwörung, das wiedererkennbare Regionale, was ich damals an Hölderlin verstand und was mir auch in den vierzig Jahren seither immer wieder einen Zugang zu seinen Gedichten eröffnet hat:

„Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings / Aufgegangen das Tal, wenn mit dem Neckar herab / Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume / Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft / Aber mit Wölkchen bedeckt an Bergen herunter der Weinstock / Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft.“

Das habe ich noch im Burgund gespürt und mich damals gefragt, warum die Landschaft mich dort so vertraut anmutete. Dabei bin ich gar kein richtiger Schwabe, nur ein Neig’schmeckter, aber mit zunehmendem Alter bin ich gierig nach dem Zauberwort, das die Bilderwelt meiner Jugend wieder entzündet, und Hölderlin schenkt es mir, wann immer ich ihn einmal aufschlage.

Was sein Leben betrifft, so kann er einem Romancier allerdings schwerlich zum Vorbild dienen, von dem schon Hemingway sagte „Il faut d’abord durer“ – „Man muss zunächst einmal durchhalten“, sprich: die Sphären der Gesellschaft und der Psyche durchschreiten, ohne vom Leben aufgerieben zu werden, Kenntnisse erwerben und den Atem und den Stoizismus besitzen, das Erworbene dann auf jeder Lebensstufe in Literatur umzusetzen. Ich rede dabei weniger von seinem Zusammenbruch und dem jahrzehntelangen verminderten Leben, Denken und Schaffen in Tübingen. Was hätte er denn bei fortgesetzter geistiger Gesundheit stattdessen zu erwarten gehabt? Ein Leben, wie es eine Generation nach ihm Mörike lebte. Ein unzufriedenes Leben mit kleinem Horizont. Herrliche poetische Aufschwünge, während die Füße im Kot einer erbärmliche Dorfstraße in irgendeinem deutschen Provinzkaff stecken. Es war schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sinnvoller, Jura und Staatskunde zu studieren als Theologie und Literatur, wenn man in die Metropolen wollte, statt in der pietistischen Enge versauern und sich sein Griechentum wegen mangelnder Reisekasse aus den Fingern saugen zu müssen. Aber sosehr ich das Leiden an der ewigen Diskrepanz zwischen Gedankenreichtum und Tatenarmut nachvollziehen kann, so sehr ich von dem ewigen Zweifel weiß, ob der Wortebeweger sich in einer Welt der praktisch Tätigen und Erfolgreichen, der Weltbeweger, seines Tuns nicht schämen muss, so fern stehe ich dem kulturdeutschen Lieblingsklischee, für alles die vermeintliche Kälte Deutschlands verantwortlich zu machen, an der die Dichter gescheitert seien.

Die Stirn blutig schlagen

Erst wenn die Genies unsterblich und tot sind, finden die Schwaben sie gut

Hölderlins Epoche war keine so dürftige Zeit, wie mancher es gerne hätte, vielmehr eine ungeheuer offene und spannende, bloß lieben es die Deutschen aus irgendeinem Grunde, dass ihre Dichter sich die Stirnen blutig schlagen an den deutschen Verhältnissen und ihrer Hoffnungslosigkeit, und ob sie nun schlicht dem Typhus erliegen wie Büchner oder in der Schizophrenie versinken wie Hölderlin, das Klischee lässt sie immer an Deutschland sterben. Irgendwie lieben wir unsere Schriftsteller jung, verzweifelt und fragmentarisch und halten nicht so viel von Reife und Vollendung und Ausschreiten des Lebenskreises. Das gilt immer als affirmativ oder kompromisslerisch, das hat schon der alte Goethe spüren müssen, im Volk des Imperativs und Konjunktivs, in dem der simple Indikativ immer ein wenig abschätzig belächelt wird.

In einem Zeitungsartikel wurde vor kurzem herausgearbeitet, dass die Deutschen in ihrer Literatur noch immer lieber Geschichten von gesellschaftlichen Verlierern und Außenseitern hören, die einander Gedichte rezitieren, während draußen der kalte Kapitalismus und der Faschismus wesen, und in denen Gut und Böse so klar geschieden sind wie im Leben nimmermehr, als solche, die sich ein wenig tiefergehend und objektiver mit dieser Gesellschaft auseinandersetzen.

Nein, dieser Klischee-Hölderlin ist es nicht, der mir nahesteht, sondern der, der mir zuruft, der mich auffordert „Komm ins Offene, Freund!“

Dem bin ich gefolgt als Schriftsteller, der mir sagt:

„Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! dass wir das Offene schauen, / Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. (…) / Drum an den Isthmos komm! dorthin, wo das offene Meer rauscht.“

Das habe ich versucht zu beherzigen, ins Offene der Gesellschaft, der Geschichte, der Beziehungen zwischen den Menschen zu gehen, auch in andere Länder, mit Empathie aber auch mit dem kalten Herzen, das einen befähigt, aus dem Limbus der Dichtung wieder zurückzufinden zum Tag und seinen Forderungen. Und so bin ich letztlich heute hier gelandet, um Danke zu sagen für die Auszeichnung, die Sie mir zuerkannt haben.

■ Mit dieser (hier leicht gekürzten) Rede bedankte sich Michael Kleeberg für den Friedrich-Hölderlin-Preis, der ihm am letzten Sonntag in Bad Homburg überreicht wurde. Kleeberg lebt in Berlin und ist Autor u. a. der Romane „Karlmann“ und „Vaterjahre“