WER DEN NIEDERGANG AUSRUFT, DARF VON DER HOCHZEIT NICHT SCHWEIGEN: Berlin, Berlin, das Ende von Berlin!
MARTIN REICHERT
Neulich fragte mich eine sehr junge Kollegin, ob ich denn das Berlin der Neunziger vermissen würde. Sie fragte das in einem so freundlich-mitleidigen Ton, als ob ich ein Bein verloren hätte oder ein Überlebender des Ersten Weltkrieges sei, der nun dem Kaiser hinterherweint. Ich sah mich also genötigt spontan zu antworten: „Nein, auf keinen Fall! Heute ist es doch auch sehr lustig in Berlin“.
Aber stimmt das eigentlich? Zunächst, das ist die eine Schwierigkeit, wäre zu klären, was da eigentlich genau los war in den „Neunzigern in Berlin“. Mehrere Bücher wurden darüber verfasst, aber es müsste doch möglich sein, sich selbst zu erinnern? Ausgehend von der Lektüre in der Zeitung Die Welt (Online natürlich), in der gerade mal wieder das Ende des Berlin-Hypes verkündet wurde, erinnerte ich mich zunächst daran, dass mir schon bei meiner Ankunft in der Hauptstadt Mitte der Neunziger beschieden wurde, längst zu spät zu sein in Bezug auf das umwerfende Nachtleben in Ruinen nach der Wende. Verpasst hatte ich natürlich auch die Insel West-Berlin (David Bowie) und den Hungerwinter 46/47 (Hildegard Knef). Dabei ist es eigentlich ziemlich egal, was man verpasst hat, wenn man mit dem Leben gerade erst richtig anfängt.
Also, was war da eigentlich los in den Neunzigern? Die erste Erinnerung, die mir in den Sinn kommt: Ich liege mutterseelenalleine auf einem billigen Sisalteppich in einer eiskalten Altbauwohnung in Prenzlauerberg, bin total bekifft und dazu betrunken von sehr, sehr billigem Rotwein. Es ist November und ich höre Portishead. Und ich habe Angst: Was soll ich eigentlich machen, jetzt, wo ich alles machen kann, was ich will?
Eine seinerzeitige Bekannte verließ die Stadt nach einem halben Jahr, nachdem sie ihrem neuen Berliner Lover ihre gesamten Ersparnisse „geliehen“ hatte und ihr die uralte Gasetagenheizung in der Küche um die Ohren geflogen war. Ich blieb, nachdem ich für meinen ersten Lebensgefährten Schulden in astronomischer Höhe gemacht hatte, sein Kumpel mein Auto in einen Totalschaden verwandelt und der Geliebte selbst die Fenster meiner Wohnung zertrümmert hatte. Weniger David Bowie, mehr Hildegard Knef.
Gut war, dass man hip in Sachen aus der Altkleidersammlung rumlaufen konnte – heute muss man die gleichen Klamotten für teuer Geld bei verschiedenen Markenanbietern erwerben. Schlecht war, dass an der berühmten Humboldt-Universität das reinste Chaos herrschte, das Leben war eine Baustelle und das bedeutet Lärm, Dreck und Ungemach. Und die Aussicht, später sowieso keinen Job zu bekommen. Und überhaupt, wir hatten ja nichts: kein WLAN, kein Smartphone und keine glutenfreien Backwaren.
DonnerstagRené HamannUnter Schmerzen
FreitagMichael BrakeKreaturen
MontagCigdem AkyolDown
DienstagDoris AkrapEben
MittwochAnja MaierZumutung
Die Neunziger endeten für mich an einem Silvesterabend auf einem Dach in der Frankfurter Allee. Vom Millenniumsfeuerwerk konnte man aufgrund dichten Nebels überhaupt nichts sehen und die Maxi-Single von Prince „1999“, die ich extra zu der Party mitgebracht habe, sah ich nie wieder. Nein, ich vermisse die Neunziger nicht. Jung sein ist auch nicht nur toll. Und ja, heute ist es auch sehr lustig in Berlin.
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