„Ich kann bei der FDP klatschen“

EINZELKÄMPFERINNEN Seit 100 Tagen sitzen Nebahat Güçlü und Dora Heyenn fraktionslos im Parlament. Ein Gespräch über verlorene Rechte und Ex-Kollegen, die nicht mehr grüßen

49, Politologin, war von 2004 bis 2010 grüne Abgeordnete in der Hamburger Bürgerschaft, 2008 bis 2010 deren Vizepräsidentin, seit 2015 ist sie dort fraktionslose Abgeordnete.

INTERVIEW SVEN-MICHAEL VEIT

taz: Frau Güçlü, Frau Heyenn, seit 100 Tagen sitzen Sie beide als Fraktionslose in der Hamburger Bürgerschaft– fühlen Sie sich einsam?

Dora Heyenn: Nein. In einer Fraktion kann man sich gelegentlich einsam fühlen, aber jetzt – nein.

Nebahat Güçlü: Anfänglich war es etwas schwierig, aber das hat sich gegeben. Es ist jetzt eher ein Gefühl von Freiheit, nur nach meinem Gewissen handeln zu können und das zu tun, was ich politisch für richtig halte. Das ist ein Gewinn.

Also ohne Fraktionszwang.

Güçlü: Ja, man muss nicht mehr aus Loyalität zur Fraktion etwas mittragen, was man eigentlich nicht richtig findet.

Frau Heyenn, ist es nicht gerade für Sie ein besonders tiefer Fall – von der langjährigen Fraktionsvorsitzenden zur Einzelkämpferin. Gibt es da nicht einen Bedeutungsverlust?

Heyenn: Das empfinde ich nicht so. Es ist nicht so, dass ich in ein Loch gefallen wäre, gar nicht.

Und wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren jeweiligen Ex-Fraktionen? Werden Sie noch gegrüßt?

Güçlü: Das ist schon von den Personen abhängig. Der menschliche Kontakt ist zu zwei, drei Leuten aus der grünen Fraktion noch da, mit den anderen eher nicht. Da ist Funkstille.

Heyenn: Wir grüßen uns, klar. Und mit einigen Abgeordneten der Linken gibt es auch eine politische Zusammenarbeit. Aber die ist punktuell und von den Personen abhängig.

Aber angeblich stehen die Türen bei den Linken für Sie weiterhin offen.

Heyenn: Das ganze Gerede, wieder mit mir sprechen zu wollen, dass ich gerne zurückkommen könne, das ist doch Getue. Dazu ist die Distanz in Wirklichkeit viel zu groß. Aber einige Linke würden Sie doch gerne zurückhaben?

Heyenn: An der Basis ja. Da habe ich immer noch Termine in den Ortsvereinen, ich bin ja auch weiterhin in der Partei.

Gibt es denn einen Weg zurück für Sie?

Heyenn: Zur Zeit nein.

Frau Güçlü, gibt es für Sie einen Weg zurück zu den Grünen?

66, pensionierte Lehrerin, war bis 1999 Mitglied der SPD. Von 2008 bis 2015 war sie Fraktionsvorsitzende der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, jetzt ist sie fraktionslose Abgeordnete.

Güçlü: Ich lebe vorwärts. Ich bin und bleibe ein politischer Mensch, im Parlament und außerhalb, mit oder ohne Partei. Einen Weg zurück zu den Grünen sehe ich nicht.

Wie durchsetzungsfähig ist man im Parlament als fraktionslose Einzelkämpferin?

Güçlü: Man ist beschränkt. Ich darf keine Debatten anmelden und keine Anträge stellen, Dora auch nicht. Wir dürfen Kleine Anfragen an den Senat stellen, aber keine Großen. In zwei Ausschüssen dürfen wir mitarbeiten, haben dort aber kein Stimmrecht. In Bürgerschaftssitzungen dürfen wir fünf Minuten in der Aktuellen Stunde sprechen und fünf Minuten in den Debatten.

Sind Sie faktisch Abgeordnete zweiter Klasse?

Heyenn: Ja, schon, aber es gibt viel politischen Spielraum.

Güçlü: Wir sind in unseren Möglichkeiten beschnitten.

Sie erwähnten vorhin die größere Freiheit für politische Entscheidungen, auch bei Abstimmungen. Bei der Wahl von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz und des rot-grünen Senats im April gab es mehr Ja-Stimmen, als SPD und Grüne Abgeordnete haben. Haben vielleicht Sie für diese Koalition gestimmt?

Heyenn: Ich nicht. Olaf Scholz ist der Architekt der Agenda 2010, deretwegen ich aus der SPD ausgetreten bin. Für mich ist er nicht wählbar. Und die rot-grünen SenatorInnen auch nicht.

Güçlü: Ich habe beide gewählt.

Den Bürgermeister – und anschließend auch den Senat?

Güçlü: Ja, beide. Leider kann man bei den SenatorInnen nur alle akzeptieren oder keinen. Sonst hätte ich nur die SPD-SenatorInnen gewählt, die Grünen aber nicht.

Dora Heyenn wurde im November 2014 zum dritten Mal nach 2008 und 2011 zur Spitzenkandidatin der Linken im Bürgerschaftswahlkampf gewählt – allerdings mit nur 55,4 Prozent.

■ Bei der Wahl im Februar legte die Linke um gut zwei Prozent auf 8,5 Prozent und zwei Mandate auf elf Abgeordnete zu.

■ Am 2. März erhielt Heyenn bei der Wahl zur Fraktionsvorsitzenden keine Mehrheit und trat aus der Fraktion aus.

■ Nebahat Güçlü kandidierte zur Bürgerschaftswahl im Februar auf dem hinteren Platz 25 der Grünen-Liste. Mit 5.624 Personenstimmen überholte sie zwölf Höherplatzierte und zog ins Parlament ein.

■ Am 18. Februar trat sie auf einer Veranstaltung des Vereins „Türk Federasyon“ auf. Dieser soll den rechtsnationalistischen „Grauen Wölfen“ nahe stehen. Güçlü will das nicht gewusst haben.

■ Der Landesvorstand der Grünen nannte den Auftritt „inakzeptabel“ und stellte einen Antrag auf Parteiausschluss. Den wies das Landesschiedsgericht der Partei Ende März zurück, missbilligte Güçlüs Auftritt jedoch.

■ Am 2. März hatte die grüne Fraktion in der Bürgerschaft sich ohne Güçlü konstituiert. Zum 1. April trat diese aus der Partei aus.

Warum haben Sie das getan?

Güçlü: Es gab erstens keine Alternative. Und außerdem will ich keine Fundamentalopposition machen, sondern konstruktiv mitarbeiten. Das ist ja meine Freiheit: Ich kann einem Antrag der Linken zustimmen, wenn ich ihn für richtig halte, ich kann bei der FDP klatschen, wenn jemand eine gute Rede zum Beispiel über Bürgerrechte oder Datenschutz hält, ich kann auch der rot-grünen Koalition zustimmen, wenn sie mal was richtig macht. Ich gehe das rein inhaltlich an.

Frau Güçlü, wie bewerten Sie den Sturz von Dora Heyenn durch die Linksfraktion?

Güçlü: Es hat mich traurig gemacht, dass eine Fraktion mit ihrer langjährigen, hoch engagierten und profilierten Vorsitzenden so umgeht. Menschlich war das eine ganz miese Nummer. Der Umgang untereinander in der Politik wird immer schlimmer. Und Dank darfst du für nichts erwarten.

Heyenn: Dankbarkeit gibt es da nicht. Gerade in der Linkspartei heißt es ja immer, wir sind die Partei der Menschlichkeit und der Solidarität und so. Und dann begeht die Fraktion Wählerbetrug. Danach habe ich hunderte Mails bekommen und alle waren darüber entsetzt.

Frau Heyenn, wie bewerten Sie die Auseinandersetzung in den Grünen um Nebahat Güçlü?

Heyenn: Ich habe gar nicht verstanden, wie man wegen dieses einen Auftritts so ein Theater machen kann. Ich hatte sofort den Eindruck, dass das für einige nur ein Vorwand war, um Nebahat aus der Partei zu werfen. Sachlich gab es für so ein hartes Vorgehen keine Begründung.

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