Wie beim Beobachten der Beutelratte

THEATER Michael Thalheimer inszeniert an der Schaubühne Gorkis „Nachtasyl“. Er macht daraus ein nihilistisches Turnspiel, in dem viel braune Brühe fließt. Sein Versuch, die Drastik des Stücks zu überbieten, läuft ins Leere

Schade auch, dass die DarstellerInnen so wenig Gelegenheit bekommen zu zeigen, was sie können, nämlich sprechen. In der Regel wird gebrüllt

VON KATHARINA GRANZIN

Klaustrophobiker sind offenbar nicht im Saal; denn wer zu einer Angststörung neigt, die mit zu wenig Raum zu tun hat, hätte sicher binnen kurzer Zeit das Weite gesucht. Der Bühnenraum ist auf eine lange Röhre reduziert worden, die zum Zuschauerraum hin längs aufgeschnitten ist, ähnlich wie in einem lehrreichen Tierfilm, wo sich hinter dem Glas, das die Höhle der Beutelratte begrenzt, das Auge der Kamera versteckt. Hier im Theater prallt das Auge gleich auf die Rückwand der Röhre, die so zweigeteilt wurde, dass sich an ihrem oberen Ende auf voller Bühnenlänge ein unsichtbarer Ausstieg befindet. Um diesen zu erreichen, müssen die SchauspielerInnen die nicht unerhebliche turnerische Leistung vollbringen, die Halfpipe hochzulaufen, während sie sich mit den Händen an der oberen Hälfte der Röhre festhalten, um sich, oben angekommen, kopfüber über den unsichtbaren Rand zu schwingen. Auch sonst ist es nicht eben gemütlich in der Röhre. Mehrmals rinnt braunes Wasser die Wände hinunter, sodass gegen Ende des Stückes eine unappetitliche Schlammbrühe den Bühnenboden grundiert.

Vom Keller zur Kloake

So sieht es aus, wenn Michael Thalheimer Maxim Gorkis „Nachtasyl“ inszeniert. Das extrem Klaustrophobische des Bühnensettings ist erst einmal ein konsequentes Weiterdenken der Vorlage. „Auf dem Grund“ lautet der Originaltitel des 1902 uraufgeführten Stückes übersetzt, und den Bühnenraum vom Keller zur Kloake zu machen, ist eine Möglichkeit, die dramatische Grundidee auf drastische Art weiterzuspinnen. Und damit ist wohl bereits das übergreifende Konzept dieser Inszenierung umrissen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das ein naheliegender Ansatz ist. Denn Mangel an Drastik ist nicht das Problem dieses Klassikers des realistischen, sozialkritischen Theaters.

„Nachtasyl“ ist ein ungemein figurenreiches, gesprächiges Stück, in dem die Personen voreinander in ihrem Lebenselend posieren, während sie unfähig sind, das existenzielle Leid der anderen wahrzunehmen. Da wird geflucht, geprügelt, philosophiert, gestorben und gesoffen, dass es nur so eine Art hat. Es fängt übel an und hört schlimmer auf.

Thalheimer scheint das nicht gereicht zu haben. Deswegen wohl muss Wassilissa (Jule Böwe), die unbarmherzige Hauswirtin, die hier nur in Unterwäsche und Netzstrumpfhose auftritt, ihren Unterleib entblößen, um von hinten gerammelt zu werden. Deswegen muss der Polizist Medwedjew (Ulrich Hoppe), ihr Bruder, sich minutenlang da vorne einen runterholen. Und trägt er deswegen am Schluss die Reizwäsche und das Make-up seiner Schwester? Was sollen wir uns dazu denken? Etwa: Cross-Dressing ist das, was man macht, wenn man ganz unten angekommen ist? Was würde Conchita Wurst dazu sagen?

Klar ist jedenfalls, dass gezeigt werden soll, wie das Elend den Menschen auf rohe Triebhaftigkeit reduziert. Dafür aber hätte Gorki Thalheimers nicht bedurft. Natürlich, irgendwie muss man dieses Stück zurichten, wenn man es heute auf die Bühne bringen will, und eines ist dieser Abend in der Kloake immerhin nicht: langweilig. Schon die verschiedenen Arten der DarstellerInnen, den Weg hinein und hinaus über die Halfpipe zu bewältigen, sorgen für Abwechslung. Gorkis Text extrem zu straffen hat ihm noch nie geschadet.

Der Pilger als Werwolf

Und, ja, es gibt Momente von großer theatralischer Kraft. Zum Beispiel, wenn der Schauspieler (Felix Römer) die tote Anna (eine wunderbare Leiche: Alina Stiegler) an ihrem langen Haar hält und in ekstatischer Selbstvergessenheit ein Poem deklamiert, während der Kopf der Toten schlaff hin und her schwingt. Und jene zentrale Szene, in der sich alle Elenden um den Pilger Luka (Tilman Strauß) scharen, der, während er die Sterbende in den Armen hält, von der Lichtregie als werwolfhafte Jenseitsgestalt ausgeleuchtet wird. Das ist ein visuell großer Augenblick, und Thalheimers nihilistische Lesart des auch bei Gorki durchaus mehrdeutig angelegten Quasi-Heiligen Luka ist auf jeden Fall diskussionswürdig. Aber sonst?

Der konzeptuelle Weg über die symbolhaft gesteigerte Drastik führt dazu, dass die Dramatis Personae entmenschlicht werden, ausgestellt wie die Beutelratte in ihrem Bau. Schade auch, dass die hochqualifizierten Schaubühnen-DarstellerInnen an diesem Abend so wenig Gelegenheit bekommen zu zeigen, was sie einst auf der Schauspielschule gelernt haben, nämlich zu sprechen. In der Regel wird gebrüllt.

Aber so ist es hier halt, zu differenzierten Äußerungen sind diese Menschen am alleruntersten Ende der sozialen Hackordnung nicht mehr fähig. Hoffnungsloser Abschaum eben. Das aber kann kaum die Antwort sein auf die zahllosen offenen Fragen, die Gorki mit diesem Stück hinterlassen hat. Schließlich war der Mann Humanist.

■ „Nachtasyl“: nächste Vorstellungen am 8., 9., 10., 15., 16. und 17. Juni, jeweils 20 Uhr, Schaubühne