„Vielen Funktionären fehlt es an Bewusstsein“

DIE AUSGANGSLAGE Fifa-Expertin Tatjana Haenni über das zähe Ringen um Fortschritt im Frauenfußball und Kicks auf Kunstrasen

■ Die 48-Jährige ist seit 2008 Direktorin für Frauen-Wettbewerbe bei der Fifa und gleichzeitig Präsidentin des FC Zürich, Frauen. Sie hat selbst 25 Länderspiele für die Schweiz bestritten und im Zuge eines Sprachaufenthalts kurzzeitig auch in Kanada gespielt.

taz: Frau Haenni, wie steht es um den Frauenfußball?

Tatjana Haenni: Wir verzeichnen zwar ca. 30 Millionen Frauen und Mädchen, die Fußball spielen, aber 91 Prozent davon verteilen sich auf die Top-20-Nationen. Abseits davon ist das Verständnis in den meisten Verbänden nicht vorhanden, und es findet keine zielgerichtete Förderung des Frauenfußballs statt. Im Jahr 2013 haben von 209 Mitgliedsverbänden der Fifa überhaupt nur 97 ein Frauen-Länderspiel ausgetragen.

Wo wird der Frauenfußball sehr stiefmütterlich behandelt?

Der südamerikanische Kontinentalverband ist sicher ein Sorgenkind. Es gibt bereits ganz viele Mädchen, die auf der Straße oder in Camps Fußball spielen, aber sie finden später keine Strukturen vor, in denen sie ihrem Sport nachgehen können. Auch der afrikanische Kontinentalverband schöpft es sicher nicht aus: Da fehlt es oft an Geld und den Ressourcen, um überhaupt den Frauenfußball zu unterstützen. Vielen Funktionären fehlt es an Bewusstsein oder am Bekenntnis für den Frauenfußball. Kulturelle Schwierigkeiten behindern vielerorts die Anerkennung. Deshalb gibt die Fifa 22 Millionen Dollar in diverse Entwicklungsprogramme.

Was muss passieren?

Frauenfußball muss als eigenständiges Produkt angesehen werden und wird nur wachsen, wenn die Entscheidungsträger auch daran glauben. Es sollten in den Entscheidungsgremien mehr Frauen und mehr Frauenfußball-Spezialistinnen vertreten sein.

Kann Deutschland als Vorbild gelten?

Nach einer Umfrage sind in Deutschland angeblich fast 22 Millionen Menschen am Frauenfußball interessiert. Nadine Angerer ist bei 74 Prozent der Bevölkerung bekannt. Wir müssen aber dahin kommen, dass die Mädchen künftig nicht ein Trikot von Neymar oder Schweinsteiger tragen, sondern eines von Nadine Kessler oder Celia Sasic.

Lassen sich die WM 2011 in Deutschland und die WM 2015 in Kanada vergleichen?

In Deutschland hatten wir weltweit 407 Millionen TV-Zuschauer und einen Schnitt von 26.428 Zuschauern pro Spiel. Diese WM hat sogar einen Gewinn abgeworfen. Mit den erstmals 24 Teilnehmern und 52 Spielen hoffen wir nun auf großes Interesse im Fernsehen. Beispielsweise wird Fox Sports als wichtiger Partner 16 Live-Spiele in Nord- und Südamerika anbieten, ARD/ZDF, BBC und andere sind vor Ort.

Warum wird diese WM auf Kunstrasen ausgetragen?

Vorweg: Der in allen Stadien verlegte Kunstrasen entspricht den Fifa-Regularien, ist die aktuelle beste und modernste Qualität, und derselbe, auf dem einige Länder auch WM-Qualifikationsspiele der Männer austragen. Nicht die Fifa hat sich den Kunstrasen für die WM gewünscht, sondern die Organisatoren, denn nur Moncton hatte in dem Stadion einen Naturrasen liegen.

Was bringt die Erweiterung des Teilnehmerfelds auf 24 Teams?

Wir wollen diese Verbreiterung bewusst, weil sich damit in acht Nationen mehr durch die WM-Teilnahme neue Entwicklungsmöglichkeiten ergeben.

INTERVIEW: FRANK HELLMANN