Zwischen gestern und morgen

DIGITALISIERUNG Es gibt sie noch, die gefaltete Karte. Radreisen in Zeiten von GPS, Internet und Smartphone sehen anders aus. Doch die Technik nutzt nur denen, die sie verstehen

Eine Region, die im Netz nicht vorhanden ist, wird in der Realität gar nicht erst von uns angeradelt

VON GUNNAR FEHLAU

Die erste Generation der Nachkriegsgeborenen wuchs als Pfadfinder auf. Schlimmstenfalls bedeutete das paramilitärische Exzesse und in jeder Hinsicht Orientierung, also auch Karte und Kompass. Noch heute ist mir die dynamische Orientierungsfähigkeit meines Vaters ein Rätsel: Am Steuer der Ente kurvte er durch wildfremde Altstädte, in der rechten Hand die Revolvergriffschaltung, in der linken die mäßige ADAC-Landkarte. Hat er sich jemals verfahren? Fehlanzeige! Bei den familiären Radtouren machte er in Sachen Routing die gleiche Figur, und nach wie vor hat er eine ausgeprägte Skepsis gegenüber digitaler Navigation. Karte, Verstand und Radioverkehrsmeldung genügen ihm.

Mir geht es da anders: Ohne Navi bin ich nur selten unterwegs, auf dem Fahrrad, wohlgemerkt. Zwanghaft wende ich es jedoch nicht an. Mal folge ich einer aufgespielten Route, mal dient es als Abgleich zur mitgeführten Karte und manches Mal nur als Back-up, um im fremden Terrain wieder sicher und direkt zum Ausgangspunkt zu gelangen. Das Navi ist eine solide Technik, die im Hintergrund arbeitet, damit ich mich vollends dem analogen Genuss der Realität widmen kann. So wie mein Vater souverän im Umgang mit Karte und Kompass war, so braucht man auch für das GPS-Gerät solide Fähigkeiten, damit der Winzling am Lenker seine Stärken ausspielen kann. Die Nutzerkompetenz bestimmt den Nutzen.

Das heißt allerdings auch: Bei den meisten GPS-Geräten muss man schon ein wenig nerdig sein, um über die störrische erste Bedienungsphase hinwegzukommen. Auto-Navi oder Handy-App sind zumeist intuitiver, aber gerade auf längeren Touren (Stichwort Akkulaufzeit und Netzabdeckung) gegenwärtig noch keine Alternative zum Outdoor-Gerät. Manches Gerät fällt unter die Rubrik „toxische Technik“: Der Zeitgewinn auf der Tour ist bedeutend geringer als der Zeitaufwand bis zur souveränen Beherrschung des Geräts. Aber wir leben nun mal in einer Transformationszeit vom analogen zum digitalen Lebensstil.

Biedermeiersche Geschichtsverklärung und neoliberale Zukunftsglorifizierung werden an dieser Stelle ignoriert, um ganz wertungsfrei festzustellen: Immer mehr analoge Vorgänge werden durch digitale substituiert. Wann haben Sie zum letzten Mal in einem Wörterbuch geblättert? Schauen Sie in der Tageszeitung nach den Wetteraussichten? Buchen Sie Reisen per Katalog? Und so hat auch beim Radfahren das Digitale längst die analoge Welt überholt. Nehmen wir einmal eine Wochenend-Radreise mit einer Übernachtung. Region und Route werden Sie im Internet recherchieren. Gleiches gilt für das Hotel. Folgerichtig werden Sie eine Region, die im Netz nicht vorhanden ist, in der Realität gar nicht erst anradeln. Dabei kommt es zu spannenden Phänomenen: So habe ich letztens die Versorgungslage entlang einer Route im Netz recherchiert (www.tuscanytrail.it). Na, da schau her! Es taten sich anspruchsvolle Sektionen von 40 bis 50 Kilometer Länge auf, die laut Internet über nahezu keine Restaurants, Hotels, Supermärkte oder Tankstellen verfügten. Vor Ort war dann festzustellen, dass es vor schnuckeligen Herbergen, Gelegenheiten zum feinen Essen und Trinken und zur Verproviantierung nur so strotzte – alle drei bis fünf Kilometer entfaltete sich das kulinarische Dolce Vita in seiner gesamten Bandbreite. Statt Versorgungssorgen Völlerei.

Und das allgegenwärtige Handy beziehungsweise Smartphone? Es zeigt sich wie auf jeder Reise als wahres Allzweckgerät, ist aber gerade auf längeren Radtouren ein Tausendsassa mit Diätfunktion. Es ist Heimatkontakt, Jukebox, Bibliothek, Wetterstation, Wecker, Kamera, Navigator – und hat jetzt auch eine überaus wichtige Logistikfunktion. Gerade dieser Punkt hat das Radreisen revolutioniert. Lange Zeit waren Reparierbarkeit und Ersatzteilverfügbarkeit wesentliche Kriterien bei der Auswahl und Ausstattung des Reiserades sowie Richtschnur für die Zusammenstellung des Werkzeugsets und der mitgeführten Ersatzteile. So ein vollgepacktes Fahrrad war mitunter schwerer als gewünscht, das Serviceset brachte gut und gerne zwei Kilogramm zusätzlich auf die Waage. Klassisches Flickzeug, Ersatzschläuche und Pumpe noch außen vor gelassen. Wer nicht gerade in den letzten Ecken eines Drittweltlandes radelt, sondern eine halbwegs gute Netzabdeckung auf seiner Reiseroute erwarten kann, der fährt heute leichter, und zwar um einige Kilogramm. Denn wenn etwas kaputtgeht, dann wird per Handy beim Händler des Vertrauens oder in einem Onlineshop Ersatz bestellt. Overnighter innerhalb Europas ist kein Hexenwerk oder Elitending, sondern logistische Realität. Meist sogar günstiger als das Hotel, in dem man auf die Ersatzteile wartet.