„Das koloniale Archiv komplexer denken“

COLONIAL ART Die Londoner Kunsthistorikerin Tamar Garb über die von ihr kuratierte Ausstellung „Distanz und Begehren: Begegnungen mit dem afrikanischen Archiv“ bei C/O Berlin

■ ist Professor für Kunstgeschichte am University College London. Spezialisiert auf französische Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hat sie viele Texte zu Feminismus und Kunst veröffentlicht; zuletzt forschte sie zu Kunst und Fotografie im Post-Apartheid-Südafrika.

INTERVIEW FELIX KOLTERMANN

taz: Frau Garb, warum ist es wichtig, heute koloniale Fotografie auszustellen?

Tamar Garb: Das koloniale Archiv ist wichtig, weil es eine materialisierte Spur der Geschichte darstellt, die erzählt und erklärt werden muss. Die Fotografie war seit ihrer Erfindung Teil des kolonialen Projektes und wurde auf verschiedene Art und Weise genutzt. Heute stellt sie uns ein reichhaltiges Archiv aus Objekten und Repräsentationsmustern zur Verfügung, das nur darauf wartet, interpretiert und dekonstruiert zu werden. Gleichzeitig müssen wir das koloniale Archiv komplexer denken. Lange Zeit wurde es eher eindimensional gesehen und der Fokus auf den unterdrückerischen Blick der europäischen Kolonisatoren und die damit einhergehende Viktimisierung des subalternen Subjekts gelegt. Aber je genauer man sich die koloniale Fotografie des 19. Jahrhunderts anschaut, umso komplexer werden die dort vorhandenen Repräsentationsmuster.

Was sind Beispiele für diese verschiedenen Repräsentationsmuster?

In den 1860er und 1870er Jahren zum Beispiel, als in Südafrika Menschen aus dem ganzen Land in die Diamantenminen strebten, wurden sie gleich bei der Ankunft fotografiert. Die Menschen tragen Kombinationen der unterschiedlichsten Kleidungsstücke, von Fellstücken über Teile von Uniformen bis hin zu Zylindern. Hier werden hybride Identitäten sichtbar. Die Fotografie ist dabei und zeichnet diese komplexen Aushandlungsprozesse auf. Gleichzeitig suchen die Menschen Fotostudios auf, um Porträts von sich anfertigen zu lassen. Schon zu dieser Zeit sieht man Afrikaner, die in Studios in viktorianischen Kostümen posieren. Trotz allem gibt es natürlich Leute, die mit dem Bild anderer Geld verdienen wollen und sich aufmachen, „ethnografische“ Studien zu erstellen.

Für welche Art der Ausstellungspräsentation dieser Bilder haben Sie sich entschieden?

Für mich war es wichtig, dass diese Bilder Objekte sind, die Teil einer spezifischen kolonialen Vergangenheit sind und die nicht isoliert von dieser gezeigt werden können. Deshalb zeigen wir etwa die Postkarten in einer Vitrine und nicht an der Wand. Zusammen mit Seiten aus Fotoalben und Bücher wird so klar, dass diese Objekte Teil einer Bildkultur waren, in der die Bilder in unterschiedlichen materiellen Formen zirkulierten und genutzt wurden. Darüber hinaus war es mir extrem wichtig, den zeitgenössischen Kontext mit einzubeziehen und die ganze Ausstellung damit zu rahmen, wie Fotografen heute auf dieses Archiv schauen.

Auf welche Art und Weise setzen sich zeitgenössische afrikanische Fotografen mit dem Archiv auseinander?

Es gibt viele Wege, wie dieser Materialstock genutzt wird. Mir ist jedoch wichtig, dies in einer breiteren Tendenz der zeitgenössischen Kunst zu verorten, mit dem Archiv zu arbeiten. Einen wichtigen Raum für Interventionen stellen die anthropologischen Darstellungen dar. Einige Künstler wie Sammy Baloji wenden sich diesen in einer Art traurigen und elegischen Meditation zu, andere wie Zanele Muholi nutzen sie als Quelle für Satire und Humor. Santu Mofokeng destabilisiert die monolithische Vorstellung des ethnografischen Afrikaners, in dem er ihr Reproduktionen von europäisch gekleideten Afrikanern in moderner städtischer Umgebung gegenüberstellt.

Was waren die Herausforderungen bei der Umsetzung der Ausstellung?

In einer Ausstellung wie dieser gibt es immer eine Spannung zwischen dem Rückfall ins Anthropologische auf der einen Seite und der Ästhetisierung auf der anderen Seite. Zwischen diesen beiden Polen ist ein aktiver und kreativer Dialog notwendig. Aus diesem Grund ist der Rahmen der zeitgenössischen Kunst so wichtig, weil er uns hilft, nicht in alte museologische Traditionen zu verfallen, über die Repräsentationen von Afrikanern gewöhnlich strukturiert wurden.

Parallel zu „Distanz und Begehren“ zeigt C/O Berlin die Ausstellung „Genesis“ von Sebastião Salgado. Was ist Ihre Perspektive auf dieses Projekt?

Salgados Blick folgt einer romantischen Vision. Sie kommt aus einem Festhalten am Pittoresken, mit einer an das 19. Jahrhundert erinnernden Faszination für die Pracht und Erhabenheit der Natur. Teile der Umweltpolitik haben diese Vision zu neuem Leben erweckt. Vor allem die damit verbundene Darstellung von Menschen empfinde ich als problematisch. Die Fotografie ist ein zutiefst modernes Medium, aber bei Salgado werden die moderne Technologie und technische Apparaturen genutzt, um das Bild einer Welt zu zeichnen, in der die Zeit stehen geblieben ist und die sich nie verändert hat.

Was wünschen Sie sich, dass die Besucher aus dem Dialog der beiden Ausstellungen mitnehmen?

Die Schwierigkeit in der Gegenüberstellung ist, dass Salgados Bilder in Bezug auf Größe, Anzahl, Kontrast und Druckqualität sehr beeindruckend sind. Dies ist insofern schade, als dass es ein Filter für die Begegnung mit „Distanz und Begehren“ und den kleinen Bildern ist, wie sie im 19. Jahrhundert hergestellt wurden. Man braucht einen besonders aufmerksamen Besucher, der sich auf diesen Wechsel einlässt. Aber vielleicht sind die zeitgenössischen Arbeiten mit ihrem kritischen Ansatz und ihrer afrikanischen Perspektive auch genau das richtige Korrektiv. In jedem Fall ist es eine produktive Spannung.

■ „Distanz und Begehren“ aus der Walter Collection Neu-Ulm/New York, bis 14. Juni: Sebastião Salgado: „Genesis“, bis 16. August, C/O Berlin, Mo–Fr, 10–20 Uhr