EIN ANDERES BIOTOP: Fahrrad-Spuk
Auf dem Heimweg gerate ich in einen riesigen Pulk von Radfahrern, die im Kreis um den Kotti fahren und den Autoverkehr blockieren. Da ich auch mit dem Fahrrad unterwegs bin, fahre ich ein paar Runden mit. Das also ist, so wird mir klar, die nächtliche Stadtrundfahrt von Critical Mass.
Deutsche Radfahraktivisten hatte ich mir anders vorgestellt. Wenn ich mir das Verbandsorgan des Deutschen Radfahrer-Clubs angucke, stelle ich mir Jürgen Trittin mit stromlinienförmigem Radhelm und Kunstfaser-Shorts in Metallic Blue vor. So wie die schnauzbärtigen Figuren mit den guten Tourenrädern, die einem bei Ausflügen ins Berliner Umland immer über den Radweg fahren und später im Biergarten hocken. Im Englischen gibt es dafür sogar ein eigenes Akronym: MAMIL – Middle-Aged Men in Lycra. Aber das hier ist ein ziemlich anderes Biotop: jünger, abgerissener, wie richtige Kreuzberger Demoteilnehmer eben, und zum Teil mit ziemlich krass gepimpten Rädern. Wir fahren immer wieder unter der Hochbahn durch. Mir fällt auf, dass ich schon lange keine so gute Laune mehr hatte.
Denn das hier ist schon lustig: eine Mischung aus deutscher Rechthaberei und karnevaleskem Treiben. Yeah, wir lassen den Autoverkehr für ein paar Augenblicke ruhen. Und die Polizei muss die Demoroute sichern. Passenderweise ist jetzt Mitternacht, denn das alles hat etwas von Spuk und Schabernack. Wenn genervte Autofahrer hupen, ertönt aus dem Fahrrad-Corso ein unheimliches Heulen und Bellen. Einige der Räder sind mit Lichterketten dekoriert, die im Dunkeln blinken.
Ich genieße die Minuten, in denen ich mich als Mitglied einer marginalisierten Gruppe fühlen kann, die sich den öffentlichen Raum aneignet. Dann biegt die Kolonne in die Adalbertstraße ein. Der Spuk ist vorbei, und ich rolle allein den Kottbusser Damm runter. TILMAN BAUMGÄRTEL
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