RUHEACHSE IN MITTE
: Mutti ist weggetreten

Die Männer quallen vor sich hin: „Hamse mal ’ne DDR-Mark für mich, haha“

Schon wieder ein Foto, denkt man und drückt in Gedanken auf den Auslöser: Wie der Mann da mit seinem sonnengelben Turban, wie der Sikh da, an den sonnengelben Dolden der Schwertlilien vorbeizieht und sein Blick geht nach unten, und er sieht sie vermutlich nicht, diese ganze Pracht da in direkter Linie zwischen S-Bahnhof Jannowitzbrücke und Kino International, diese ganze Pracht da an der Ruheachse Schillingstraße, die da eine der krudesten Fußgängerzonen Berlins ist.

Im Schatten der Platte fristet eine aufgelassene Apotheke namens Flamingo ihr Dasein; einst sicherlich subventionierte Sprayergemälde, die den Pharmazeuten bei der Arbeit zeigen, künden von ihrem Sinn. Jetzt ist die Wand daneben gepflastert mit einer kommenden Erotik-Börse und auf dem Dach kackt eine grauschwarz gescheckte Dohle, und wieder fällt einem ein, dass in München alle Dohlen schwarz sind. Unter dem Vordach des verwaisten Asia Imbiss 66, auch er aufgelassen, hat sich eine Obdachlosen-Combo eingerichtet, ihre Hunde stehen quer vor den verschlissenen Matratzen wie Wachleute, die Tierfelle glänzen und die Männer quallen vor sich hin, unverständliches Gemurmel, die Haare stumpf, die Gesichter fahl, „Hamse mal ’ne DDR-Mark für mich, haha.“

Wenig später hat man das unsäglich schlecht gemalte, überlebensgroße Kinoplakat zu dem unsäglichen Filmtitel „Die abhandene Welt“ im Blick, als man also „Die abhandene Welt“ erblickt, rennt einen fast eine hurtige, kurzbeinige, alterslose Frau um. Die diagonal getragene Kuriertasche schnürt ihr unvorteilhaft den Busen ab, sie telefoniert mit dem Handy, und sie ruft hinein: „Ich geh jetzt Mutti abholen, ist bei Lidl Holzmarktstraße gestürzt. Die sitzt da und ist zeitweise weggetreten.“ Als man die Karl-Marx-Allee erreicht, ertönt der Ruf des Käuzchens. Dann hat einen der Verkehr wieder eingeholt. HARRIET WOLFF