VELOZIFERISCHES
: Nach unten treten und nach oben ducken, mit Helm

VON HELMUT HÖGE

Unlängst fuhr ich mit dem 29er Bus bis zur Endhaltestelle, als ich ausstieg, umringten mich drei Jungmänner. Sie wollten meinen Ausweis. Es waren Zivilbullen. Sie dachten, ich wäre der Kopf einer Bande von Fahrraddieben, der die vielen Räder bei mir im Hinterhof, die nur geklaut sein konnten, weil sie sich quasi über Nacht von null auf über zwanzig vermehrt hatten, weiterverkaufte.

Als sie in meinem Ausweis lasen, dass ich dort wohne, waren sie enttäuscht, fragten mich aber dann als möglichen Augenzeugen aus. Ich hatte aber nichts gesehen, die Räder waren mir auf dem schmuddeligen Hof kaum aufgefallen.

Danach begann ich jedoch, mich für sie zu interessieren: Nachdem unser Haus mal wieder – mit erheblichem Gewinn – weiterverkauft worden war, hatte der „Day-Manager“ des neuen Eigentümers die Mieten verdoppelt, woraufhin fast alle Afrikaner, Roma und Arbeitslose ausgezogen waren. Ihre unrenovierten Wohnungen übernahmen Studenten und junge Leute, die irgendwas mit Medien machten – und alle besaßen ein Fahrrad.

Ich hatte gegen die Mietverdoppelung, bei der man sich auf den neuesten Mietspiegel berief, geklagt – und war mit einer Mietsteigerung von sieben Euro monatlich glimpflich davongekommen.

Eine der neuen Mieterinnen hatten die Polizisten ebenfalls befragt. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie, die polizeiliche Fahrradbeobachtung geschähe zum Schutz gegen die vielen Fahrraddiebe in Kreuzberg. Im Übrigen war sie es überhaupt gewesen, die uns die Polizei „ins Haus“ geholt hatte. Aber nicht wegen der Räder, deren plötzliches Erscheinen auf unserem subproletarischen Hinterhof sie völlig normal fand (wie auch die „Gentrifizierung“), sondern wegen drei Ausweisen von jungen Bulgarinnen, die sie bei sich unter der Auslegeware gefunden hatte, als sie das Ding im Tausch mit einem schönen Teppich entfernen wollte.

Die Pässe übergab sie den Polizisten. Einige Wochen später bat man sie ins Landeskriminalamt, um dort die Täterkartei durchzusehen. Diese hätte wie ein Internetladen ausgesehen, dazu hingen noch überall griechische Urlaubsplakate. Sie sollte dort ihre Vormieter – zwei ältere Männer aus Bulgarien – identifizieren. Man sagte ihr, dass die beiden zu einer Schlepperbande gehören würden, die die drei bulgarischen Mädchen nach Berlin und in ein Bordell verbracht hätten. Dort sollten diese ihre „Transitgebühren“ abarbeiten – ihre Pässe behielt man als Pfand ein. Irgendwann seien die Mädchen wahrscheinlich abgehauen – ohne Pässe.

Die beiden Bulgaren hätten sich daraufhin in ihrer Not, ohne Einkünfte, als Fahrraddiebe versucht, seien dabei aber mehrmals fast erwischt worden – also ziemlich erfolglos gewesen – und hätten sich daraufhin anscheinend abgesetzt, zurück in ihre Heimat. Ihre Nachmieterin konnte die beiden nicht identifizieren: „Als ich dort einzog, waren die doch schon lange weg.“

Nach dieser Geschichte verstand ich, warum mich einmal ein älterer Polizist auf dem Hinterhof gefragt hatte, ob mir dort in letzter Zeit Leute begegnet seien, die „Russisch“ sprachen – was ich verneint hatte: „Das wäre mir aufgefallen.“

Zu den zwei älteren Bulgaren fiel mir noch ein, dass es rund um den Görli und den Kotti nur junge türkische und arabische Fahrraddiebe gibt, die ihre Ware für 80 bis 100 Euro anbieten – mit dem Hinweis „Garantiert in Zehlendorf geklaut“, Ersatzteile wie Räder, Sattel und so weiter jedoch ohne Herkunftsnachweis verkaufen.

Als Fußgänger will ich davon aber nichts wissen, mich nervt eher die ganze Radfahrerei – und vor allem diese immer aufwendiger werdende Fahrradmode, die so gut zum derzeitigen sozialen Klima passt: nach unten treten und nach oben ducken, mit Helm. Als ich das letzte Mal den „Erfinderstammtisch“ in der Blissestraße besuchte, diskutierten die da auch bloß noch Fahrradverbesserungen und -vertüftelungen. Und kürzlich erst meinte eine taz-Kollegin: „Mein Fahrrad habe ich schon 16 Jahre. Das ist meine längste Beziehung.“