Dissident in alle Richtungen

DISKURS Soll Kunst ethisch sein? Besser nicht, fanden die Teilnehmer einer Paneldiskussion im Hebbel am Ufer

Der Berliner Philosoph und Kritiker Tom Holert plädiert für einen neuen „Sozialvertrag“ der Kunst, der darauf basiert, dass Kunst und Politik die Eigengesetzlichkeit ihrer beider Sphären respektieren

„Wir brauchen eine Kunst in gesellschaftlicher Verantwortung“. So oder ähnlich sagt es der scheidende Akademiepräsident und Politgrafiker Klaus Staeck. Und wenn Angela Merkel von Deutschlands Rolle in der Welt spricht, fehlt das respektheischende Wort „Verantwortung“ auch selten. Doch was hat es zu bedeuten, wenn die deutsche Bundeskanzlerin und der deutsche Vorzeigeintellektuelle dieselbe Vokabel benutzen?

Der „Isomorphismus“, die Ähnlichwerdung von Kunst und Politik, war der rote Faden der Veranstaltungsreihe „Phantasma und Politik“ des Berliner Hebbel am Ufer (HAU). Am Dienstagabend ging sie mit einem Panel zum Thema „Die Verantwortung der Kunst“ zu Ende. Spätestens seit Hans Jonas’ Buch „Das Prinzip Verantwortung“ von 1979 ist der Begriff zu einer zentralen Vokabel avanciert. Die Kunst macht da keine Ausnahme. Neben „Nützlichkeit“ gehört „Verantwortung“ inzwischen zur Begründungsrhetorik fast jeden Kunstprojekts. Die „Responsibilisierung“ der Kunst ist die jüngste Erscheinungsform ihrer ubiquitären „Anrufung des Politischen“. Die Folge: Ein „ethical turn“ der Ästhetik.

Das Late-Night-Format „Phantasma und Politik“ gehörte gewiss nicht zu den Hotspots des dichten Berliner Veranstaltungsteppichs. Dennoch könnte die von dem Kunstphilosophen Helmut Draxler und Christoph Gurk, dem scheidenden Dramaturgen des HAU, seit 2013 kuratierte Reihe einen Paradigmenwechsel der progressiven Ästhetik einleiten. Denn hier wird der kritischen Reflexion der Verquickung von Kunst und Politik das Wort geredet, einer Verquickung, die den gegenwärtigen Kunstdiskurs ebenso dominiert wie die Ausstellungspraxis.

Wenn ein alles andere als konservativer Mann wie der Berliner Philosoph und Kritiker Tom Holert für einen neuen „Sozialvertrag“ der Kunst plädiert, der darauf basiert, dass Kunst und Politik die Eigengesetzlichkeit ihrer beider Sphären respektieren sollten, muss das aufhorchen lassen. Holert wies auf die Gefahr des Paternalismus hin, der damit verbunden ist, für jemand anderen „Verantwortung übernehmen“ zu wollen.

Als „Social Responsibility“ oder „Selbstverantwortung“ sei der Begriff zum integralen Bestandteil einer Ideologie geworden, die Menschen als Marktindividuen begreife. Und wenn die Kunst, so Holert, gegen die Katastrophen der Vergangenheit und der Gegenwart „Verantwortung“ für eine bessere Zukunft übernehmen wolle, laufe sie Gefahr, sich zur „Erfüllungsgehilfin“ einer religiös konnotierten (Geschichts-)Teleologie zu machen.

Dass Kunst die gesellschaftlichen Bedingungen reflektieren muss, die sie geistig und materiell determinieren, versteht sich von selbst. Dasselbe, so ließe sich die Diskussion bilanzieren, sind beide nicht. Denn Kunst ist nicht per se ethisch, sondern tendenziell eher amoralisch, asozial, dissident in alle Richtungen. Diese Zweideutigkeit und Unberechenbarkeit machen ihre ästhetische, aber auch politische Sprengkraft aus. Um mit Helmut Draxler zu sprechen: „Wir brauchen die Fantasie. Aber als Fantasie“. INGO AREND