LESERINNENBRIEFE
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Soziale Arbeit betrifft jeden

■ betr.: „Gott sei Dank: Kein Kita-Streik an Pfingsten!“ u. a., taz vom 22. 5. 15

Bei dem Streik im Sozial- und Erziehungsdienst wird in den Medien vorrangig vom Streik der Erzieher geschrieben, jedoch sind auch die Sozialarbeiter in den Jugendämtern betroffen.

Wer in der Vergangenheit die Berichterstattungen über Kindesmisshandlung verfolgt hat, ist schockiert über das Leid, welches einige Kinder ertragen müssen. Aber wer kümmert sich eigentlich um diese Kinder? Wer unterstützt die Eltern? Wer vertritt im Gericht die Rechte der Kinder und wer steht im Kreuzfeuer der Kritiker die sagen, dass das Jugendamt zu früh oder wahlweise zu spät eingreift?

Im aktuellen Streik gibt es keine Berichte zu lesen, in denen misshandelte, missbrauchte oder verwahrloste Kinder ihrem Schicksal überlassen worden sind, da der Mitarbeiter im Jugendamt gestreikt hat.

Es gibt auch keine Berichte darüber zu lesen, dass ein depressiver Mensch den Freitod fand, da der zuständige Sozialarbeiter die Arbeit niedergelegt hat.

Warum? Weil es keine komplette Arbeitsverweigerung in diesen Berufsfeldern gibt. Die Mitarbeiter zeigen sich trotz massiver psychischer Belastung überwiegend engagiert verantwortlich und setzen sich für die Schwächsten in unserer Gesellschaft ein, obwohl auch sie zum Streik aufgerufen wurden. – Selber schuld?

Ich wünsche mir, dass die Anerkennung sozialer Berufe nicht davon abhängt, inwieweit sie im Streikfall einen wirtschaftlichen Schaden produzieren, sondern ihnen die Wertschätzung zukommt, die ihnen im modernen gesellschaftlichen Gefüge zusteht. Soziale Arbeit betrifft jeden – vom Aussterben bedrohte Arten sollten geschützt und gepflegt werden. MATTHIAS GEHLMANN, Münster

Weselsky ist nicht verantwortlich

■ betr.: „Den Markt gibt es nicht“ von Ulrike Herrmann, taz vom 26. 5. 15

Ulrike Herrmann behauptet tatsächlich, dass Claus Weselsky persönlich dafür verantwortlich ist, dass neun Streikwellen mit Millionenschäden entstanden sind. Anders als die Mainstream-Medien führt sie den Streik der Lokführer allerdings nicht auf Profilierungssucht und Machtstreben zurück. Ulrike Herrmann hat eine deutlich feinsinnigere Erklärung. Weselsky sei im Glauben an die Funktionsfähigkeit des Marktes befangen und propagiere Wettbewerb, obwohl Wettbewerb (zwischen Gewerkschaften) gar nicht existiere oder nicht existieren sollte.

Zwar ist es richtig, dass die Gewerkschaft der Lokführer für ihre Mitglieder bessere Tarifergebnisse erreichen will als die konkurrierende Gewerkschaft EVG, aber das ist weder verboten noch besonders schlimm. Sollte es tatsächlich nach einer erfolgreichen Schlichtung hierzu kommen, dann könnte man dieses Ergebnis auch als gute Lernaufgabe für die EVG und ihre Mitglieder und für die Tarifvertragspolitik von Großer Koalition und den meisten DGB-Gewerkschaften einordnen.

Die EVG-Mitglieder könnten lernen, dass es gut ist, für die eigenen Interessen hart zu kämpfen. Möglicherweise lernen sie auch, zur Konkurrenzorganisation zu wechseln, was den Lernprozess der Großen Koalition und der großen DGB-Gewerkschaften fördert, dass es nicht gut ist, zwischen guten und schlechten Tarifverträgen zu unterscheiden. Möglicherweise lernen die Letztgenannten das aber erst, wenn sie Lernhilfe aus Karlsruhe vom Bundesverfassungsgericht bekommen. Ulrike Herrmann könnte lernen, dass es durchaus problematisch ist, wenn man mit abstrakten Verallgemeinerungen konkrete Handlungen einordnen möchte.

Bevor ich es vergesse: Weselsky ist zwar Chef der Lokführergewerkschaft, aber für den Millionenschaden nach neun Streikwellen ist er nicht verantwortlich. Auch die Mitglieder der GDL tragen weniger Verantwortung als die politisch gesteuerte handlungsunfähige Arbeitgeberseite und die Berliner Politik, die ein Tarifeinheitsgesetz durchsetzen möchte, dass letztlich das Streikrecht (auch der Lokführer) massiv einschränkt. RAINER MEYER, Bonn

Dringender Handlungsbedarf

■ betr.: „Den Markt gibt es nicht“, taz vom 26. 5. 15

Am Schluss ihrer „Marktanalyse“ schreibt Ulrike Herrmann, dass Gewerkschaften kooperieren müssen. Dem ist absolut zuzustimmen. Kooperation statt Konkurrenz – das ist auch die Grundidee der Gemeinwohlökonomie. Sie kommt aber bei Alan Fiske gar nicht vor, wie wir weiter oben erfahren. Sollte sie nicht als fünfte Form des ökonomischen Zusammenlebens – neben Markt, Teilen, Tauschen und der Hierarchischen Dominanz – Erwähnung finden?

Und ist es tatsächlich so, dass öffentliche Sparkassen und Genossenschaftsbanken nicht im Wettbewerb stehen, zum Beispiel um höhere Zinsen bei Anlagen beziehungsweise geringere Zinsen bei Krediten? Vielleicht stellt die Sparda-Bank München hier ein Ausnahme dar, denn sie agiert nach dem Modell der Gemeinwohlökonomie.

Äußerst dringenden Handlungsbedarf sehe ich beim ökonomischen Modell der EU, die deutlich sichtbar den Einheitsgedanken („Union“) durch unbarmherzige Konkurrenz unter den Mitgliedsländern ad absurdum führt. Kooperation? Fehlanzeige. Die Schädlichkeit des Konkurrenzprinzips wird bereits beim Aufwachsen unserer Kinder deutlich und es endet bei Ansprüchen auf Land und Rohstoffe, beim Rüstungswettlauf von Großmächten und dem Austragen von Glaubensdifferenzen nicht durch Dialog, sondern mittels Waffengewalt. Konkurrenz und Frieden sind schlicht nicht vereinbar.

DIETER STOMPE, Erfurt