VIRTUELLE REALITÄT JA – ABER BITTE NUR MIT EINEM BEIN FEST IN DER REALITÄT. EIGENTLICH TRAURIG: Die Hölle sind die anderen
MEIKE LAAFF
You know, people in Berlin want to buy their food at a place where they can share their experience“, sagt die Frau am Nebentisch vor einem dieser neuen Kreuzberger Chichi-Märkte. Ich muss hier weg, weg von den Dutt-auf-dem-Kopf-Damen, die für fünf Euro ein in selbstgebauter Holzhütte geräuchertes Stück Bauchspeck für ihren saisonal-regionalen Eintopf kaufen. Krame in meiner mal wieder viel zu großen Tasche nach dem Einkaufszettel. Finde ihn nicht. Dafür diesen Flyer.
„Mehr Zeit für Freundschaft“ steht darauf. Ein 10-Euro-Gutschein fürs Onlinebestellen von Lebensmitteln. Von einer Freundin. Ganz beseelt war sie da noch davon, wie gut das funktioniert. Nicht teuer. Und auch der Lieferant werde anständig bezahlt, das habe sie ihn gleich gefragt. So sehr ich die Freundin mag, kurz überlegte ich, ob ich mich aus dem Fenster stürzen sollte, um diesem Dialog zu entkommen. Aber jetzt, vor der Markthalle, kommt mir dieser Service eigentlich rettend vor. Die Hölle sind bekanntlich ja die anderen.
Ich bin ohnehin erstaunt, wie Start-ups mir neuerdings den Alltag organisieren wollen: Putzkraft online ordern, Kleiderreinigung, Lieferung von Zutaten inklusive Rezept. Aber wie immer bleibt kein Trend ohne Gegenbewegung: soziale Interaktionen, das Revival des Realen, das wird das ganz große neue Ding. Jetzt muss man nur noch ein paar digitale Geschäftsmodelle für soziale Interaktionen away from keyboard and touchpad ausbrüten. Beispiel virtuelle Spielewelten: Dank der neuen 3-D-Brillen Oculus Rift und Co könnten wir uns überallhin versetzen – auf die Dächer der Welt und in tiefe Ozeane, Fallschirmsprünge simulieren und Fantasiewelten erkunden. Und doch gibt es schon jetzt Games, bei denen Spieler mit und ohne Brille kooperieren müssen. Virtuelle Realität ja – aber bitte nur mit einem Bein fest in der Realität. Ein bisschen traurig, eigentlich.
Aber in Zeiten, in denen Computer uns demnächst wahrscheinlich die Arbeitsplätze wegnehmen, Roboter uns bis in den Tod pflegen werden und Algorithmen die Wahrscheinlichkeit für alles in meinem Leben treffsicher berechnen können, fangen wir vielleicht einfach an, uns zu gruseln. So viel Effizienz und automatisierte Kundensupporthotlines haben wir doch nicht gewollt. Darum: Vinyl statt MP3. E-Books ordern, aber zur Autorenlesung gehen. Der Wochenmarkt als Hub für Social Interaction – und nebenan dieser tolle Handwerksladen, wo man noch beim Arbeiten zusehen kann. Gerne gecrowdfundet oder mit DIY-Workshops. Eat this, Amazon Bad Hersfeld.
Donnerstag René Hamann Unter Schmerzen
Freitag Martin Reichert Erwachsen
Montag Maik Söhler Darum
Dienstag Doris Akrap Eben
Mittwoch Anja Maier Zumutung
„Analog ist das neue Bio“ klebt auf jedem zweiten Laternenpfahl auf meinem Heimweg. Werbung für ein Buch, an dem der Titel wahrscheinlich das intelligenteste ist. Manufactum-Biedermeier, denke ich. Und stolpere fast über einen Betrunkenen, der schwerfällig die Einzelteile seines Handys vom Bürgersteig aufklaubt. Nachdem ich ihm geholfen habe, bricht er fast in Tränen aus, weil er mich zu seiner Vernissage einladen will, aber mir mit dem kaputten Handy nichts schicken kann. Und dann fällt es ihm doch noch ein. Er langt in die Jackentasche und holt einen Flyer raus. Geht doch.
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