Katharsis im Wiedererkennungstheater

ERFOLGSSTÜCK Überall steht sie auf dem Spielplan. Nun bringt auch das Staatstheater Braunschweig die französische Komödie „Der Vorname“ auf die Bühne. Und versucht daraus mehr zu machen als kernige Typen-Comedy

Bedient wird die Lust, sich über die Verlogenheit des eigenen Lebens zu amüsieren

VON JENS FISCHER

„Der Disponent muss seinen Job vielleicht noch lernen“, gibt sich Nicolai Sykosch etwas irritiert. Da inszeniert er einen aktuellen Bühnenhit zur Erhöhung der Auslastungszahlen und dann wird die Premiere kurz vor Ende der Saison angesetzt. „Gerade wenn die Mundpropaganda wirkt und die Leute ins Theater bringt, ist die Spielzeit vorerst vorbei.“

Also erklären wir erst mal den Reiz der französischen Gesellschaftskomödie, dieses zeitgenössisch gebildete, psychologisch fortgeschrittene Format des bürgerlichen Lachtheaters. Es treten auf: der Stille mit Geheimnis, der Clown mit der viel zu jungen Braut, der Besserwisser mit einer Gattin, der aus jeder Pore Hausfrauenfrust strömt. Eingerichtet haben sie sich im permanent brodelnden, permanent vermiedenen Ehe-Krieg – und nehmen Platz im Sitzgarnituren-Ring unter dem Vorwand „gemütliches Abendessen mit guten Freunden“.

Bald aber tragen sie Bekenntnisrituale als Hahnen- und Hennenkämpfe so schlagfertig wie kräftig aus. Dem widmeten sich 2010 die Filmdrehbuchautoren Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière und schufen ein Kammerspiel mit messerscharfen, in Klippklapp-Dialogen geschliffenen Pointen: „Der Vorname“.

Die Zimmerschlacht lief im Pariser Thèâtre Edouard VII. fast zwei Jahre en suite. Bereits in der vorletzten Spielzeit gab es sechs Premieren an deutschsprachigen Theatern, in der letzen Saison kamen 24 weitere hinzu, in dieser Saison sind überall freie Theater, Zimmerbühnen, Boulevardhäuser, Tourneeensembles und hoch subventionierte Kunsttempel mit dem Stoff beschäftigt.

Auch im Großraum Braunschweig herrscht kein Mangel. In Celle, Hannover, Göttingen, Osnabrück gab es Inszenierungen, die deutschsprachige Erstaufführung fand in Hamburg statt, die Konzertdirektion Landgraf bedient niedersächsische Gastspielhäuser – auch im Kino und Fernsehen war die lustvolle Bourgeoisie-Zertrümmerung zu sehen und ist auf DVD zu erwerben. Warum muss das Staatstheater noch nachzüglerisch darin investieren?

„Gerade weil das Stück überall so gut funktioniert“, erklärt Sykosch. Was funktioniert? Rainer Witzenbacher vom Rechteinhaber Theater-Verlag Desch meint, die Leute auf der Bühne repräsentierten einen großen Teil der Leute vor der Bühne. Genossen werde die sadomasochistische Schadenfreude des Wiedererkennungstheaters.

Deswegen ist es Sykosch wichtig, die Figuren durch individuelle Nuancierungen der Darsteller charakterlich auszugestalten – und nicht wie andernorts die Gag-Dramaturgie zur Mechanik einer kernigen Typen-Comedy zurechtzustutzen. „Schon in unseren Voraufführungen tippten Zuschauer ihren Ehepartnern immer wieder auf die Schulter – im Sinn von: Guck mal, das ist wie bei uns.“ Wie bei uns im vorgeblich aufgeklärten, linksintellektuellen, liberalen Milieu, das stolz ist auf sein sensibilisiertes Sensorium und seinen guten Geschmack.

Um die gut aufeinander eingespielte Selbstdarstellergruppe in ihrer finanziell abgesicherten Wohlanständigkeit aus der Reserve zu locken, sodass neben lukullischen Genüssen auch alles bisher unter den Teppich Gekehrte auf den Esstisch kommt, wird ein Störenfried mit provokantem Verhalten benötigt. Hier ist es der leichtsinnig zynische Scherz des eitlen Immobilienmaklers Vincent, er wolle sein Kind Adolf nennen.

„Das ist kein Vorname, sondern die Verherrlichung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt der Philologe Pierre. Nein, ist die Antwort, nicht Adolf: Adolphe, den romantischen Held aus Benjamin Constants Roman wolle er ehren. Aber es ist zu spät. Richtig schäbig los geht der prestigeträchtige Krieg um Worte. Aggressionspotenziale generieren Kontrollverluste, lassen Höflichkeitsfassaden fallen. Alte Rechnungen werden beglichen, jahrelang aufgestaute Ressentiments, Be- und Empfindlichkeiten bloßgelegt, Wunden aufgerissen, zerplatzte Lebensträume verrechnet, Persönlichkeitsmacken angeprangert. Ständig neue Fronten, vorläufige Koalitionen, Wechsel von Täter- und Opferrollen. Schließlich liegen aller Nerven blank, amouröse Geheimnisse offen herum, Beziehungen in Trümmern. Die im enttäuschend harmlosen Finale wieder zusammengeklebt werden.

So wird tatsächlich die Lust des Publikums bestens bedient, sich über die Verlogenheit des eigenen Lebens zu amüsieren. Sykosch: „In dem Seelenstriptease kann man sich selbst als jemanden entdecken, der auch Vorurteile hat, intolerant ist, der Humor des Stücks ist Vehikel des Erkennens, durch das Lachen kann der Zuschauer sich gleichzeitig distanzieren – und akzeptieren.“ So eine Art Katharsis, um nach dem warnenden Exzess auf der Bühne daheim geläutert loszulegen, mit den eigenen Makeln anders umzugehen? „Ja, genau, das hoffe ich.“

■ Sa, 22. 5., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig. Weitere Aufführungen: 7. , 12. + 26. 6., 3. 7.