Die Seele im Ellbogen

TANZ Ein Exerzitium für die Tanzwissenschaften, mit bezaubernden Reibungsenergien –Laurent Chétouanes „Considering“ im Hebbel-Theater sucht mit Kleist nach der Unschuld

VON ASTRID KAMINSKI

Die Frage, ob sich Unschuld wiedererlangen lässt, ist seit Donnerstag mit der Premiere von „Considering“, der neuen Tanzproduktion von Laurent Chétouane, im HAU 1 geklärt. Die Antwort ist: Ja.

Der Berliner Choreograph Laurent Chétouane war früher für seine zerdehnten Theaterinszenierungen bekannt, in denen Text- und Bewegungssemantik wie kubistische Slowmotion-Karusselle in Doppelhelix-Struktur umeinander kreisten, während im umzirkelten (Negativ-)Raum der Sinn implodierte. Damit hatte er einst eine ganze Generation von Nachwuchstheaterleuten in den Bann gezogen.

Chétouane selbst buchstabiert sich nun seit einigen Jahren schon durchs Tanzvokabular auf der Suche nach einer zeitgenössischen Technik. Jede Bewegung wird dabei bewusst ausgeführt, nichts passiert ohne Fokus. Der dezentralisierte Körper ist eine Art Organikum, in dem die TänzerInnen wie nach Lehrbuch dosiert einzelne Reaktionen freisetzen. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie ihre Kinnladen etwas nach unten geklappt tragen, was sich – im Selbstexperiment – als Betonung der Brustatmung anfühlt. Der Atem wird etwas leichter, umgebungsgebundener, wie bei Höhenluft.

Das wirkte zuweilen schon etwas manieriert, im Fall von „Considering“ für zwei TänzerInnen und einen Pianisten (Mathias Halvorsen) ist es das richtige Mittel. Es geht auf leerer Bühne, auf der nur links ein Flügel steht, um eine abstrakte Illustration von Heinrich von Kleists tanzkonstitutionellem Text „Über das Marionettentheater“: um Leichtigkeit und Gravitation, Tanz und Nicht-Tanz, die Linie und die perfekte Mechanik der Gliederpuppe, um Fokus. Und eben um Unschuld und Bewusstsein.

Nicht etwa das Erste Mal, sondern das erwachende Selbst-Bewusstsein ist der entscheidende Moment für den Verlust der Unschuld, die sich für Kleist an der Grazie des (Tänzer-)Körpers ablesen lässt. Es fällt der berühmte Satz von den „Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen, (die) das Bewusstsein anrichtet“.

Man könnte von hier aus weit in die Welt eines Selfie-Narzissmus eintauchen, aber solche Updates interessieren Chétouane nicht. Er will tatsächlich den Beweis für Kleist führen, und vor allem dank Raphaëlle Delaunay gelingt ihm das. Dadurch, dass Intentionales anfangs ganz in die Bewegungen und in die Bezüge mit dem Umraum gelegt wird, sind die Tanzenden wie zwei treibende Kreisel, die immer wieder zu- und auseinanderdriften und eine bezaubernde Reibungsenergie erzeugen, die sich in vorbeihuschenden Lächeln erfüllt.

Lasziv Gewolltes

Dadurch entsteht nicht eine gespielte, mimische, sondern eine tatsächlich technisch hervorgebrachte Unschuld. Vor allem Delaunay beherrscht dieses Spiel in seinen technischen Ansprüchen virtuos, während Mikael Marklund eher den Träumer gibt. Nachdem der Jüngling bei Kleist dann den Narziss in sich entdeckt hat, ändert sich die Intentionsrichtung und geht von innen nach außen. Aus ätherisch Leichtem wird lasziv Gewolltes.

Diese latent sich verdichtende Bedeutungsdramaturgie verhilft der Choreographie zu einer verfolgbaren Linie. Und das ist gleichzeitig ihr Anker, denn auf der Ebene der technischen Experimente – wie Dekonstruktionsballett auf halber Spitze mit springenden Zentrums- und Achsenverschiebungen – und vor allem im Bezug auf die Musik ist sie als reine Bühnenveranstaltung kaum fassbar. Einerseits wirkt sie wie ein Exerzitium für die Tanzwissenschaften, anderseits läuft sie Gefahr, vom eigenen Prinzip erdrückt zu werden. Um alle Bezüge bewusst herzustellen, muss Komplexität auf Machbarkeit heruntergebrochen werden.

So lässt sich die Verwendung von Beat Furrers arhythmischem Clusterstück „Phasma“ mit Kleists Paris-Szene verknüpfen. Der Autor moniert die Technik eines Balletttänzers, wie er Venus einen Apfel reichen soll, dabei aber die Seele im Ellbogen habe. In Furrers Musikstück ist die Ellbogentechnik beim Cluster-Spiel als gestauchte Streuenergie bewusst eingesetzt. Viel weiter aber lässt sich die sicherlich bedeutungsgeladene Musikauswahl, zu der noch Webern, Mendelssohn-Bartholdy und Bach gehören, auf der Bühne nicht verfolgen.

„Mithin […] müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?“ – auf diese Frage will Kleist hinaus. Chétouane nimmt sie in „Considering“, wie sie gemeint ist: ernst – und zeigt nicht nur die Unschuld als Bild, sondern auch den Baum der Erkenntnis als Setzling, dem die Zuschauer beim Wachsen zuschauen sollen.