STADTGESPRÄCH AUS PARIS
: Klassenkampf

EINE GEPLANTE UMFASSENDE SCHULREFORM LÖST HEFTIGE PROTESTE AUS. VON ALLEN SEITEN

Noch regen sich in Frankreich patriotische Geister zur Rettung der „nationalen Identität“. Die ultrakonservative Bewegung „Avenir pour tous“, die den Kampf gegen die legalisierte Homoehe weiterführt, beschuldigt die Regierung, mit einer Schulreform die moralische Dekadenz der Nation zu beschleunigen. Diese habe mit dem Recht der Ehe und Adoption für homosexuelle Paare bereits „die biologische Herkunft ausradiert“, jetzt wolle sie mit einer Änderung des Programms für den Geschichtsunterricht in den staatlichen Mittelschulen „ihr Werk der Massenvernichtung fortsetzen“, steht in einem an die Presse gesandten Aufruf dieser Bewegung.

Solche Proteste aus der reaktionären Ecke religiöser Fundamentalisten und Ultrakonservativer sind bloß ein extremes Beispiel für die heftigen Reaktionen auf eine umfassende Reform des Unterrichts im Collège (Mittelstufe der 7. bis 9. Klasse). Diese soll zu Beginn des Schuljahres 2016 in ganz Frankreich in Kraft treten. „Undemokratisch!“, „brutal!“, „Staatsstreich!“, protestiert die bürgerliche Opposition gegen das Vorgehen. Die Reform will zugunsten eines besseren Fremdsprachenstudiums für alle die als „elitär“ geltenden zweisprachigen Klassen abschaffen. Auch Latein und Griechisch rücken weiter in den Hintergrund.

Mit ideologischen und politischen Hintergedanken wird aber vor allem das neue Programm für Geschichte debattiert. Es sei zu wenig auf die Entstehung und Geschichte der französischen Nation ausgerichtet, meint die Opposition. Expräsident Nicolas Sarkozy behauptete gar, in diesem neuen obligatorischen Lehrstoff werde die Aufklärung durch eine obligatorische Lektion über den Islam „ersetzt“. Frankreichs Erziehungsministerin Najat Vallaud-Belkacem steht deswegen weiter massiv unter Beschuss.

Das musste sie erwarten. Jede Schulreform löst in Frankreich Grundsatzdebatten aus, die oft Züge eines Glaubenskriegs annimmt. Meistens muss die jeweilige Regierung in ihren Reformbestrebungen ganz oder teilweise kapitulieren, weil sich Änderungen in diesem Bereich besonders schwer durchsetzen lassen.

Die Vehemenz des Proteststurms gegen Vallaud-Belkacems Reform überraschte trotzdem ein wenig. Denn in einem Punkt sind sich eigentlich alle Beteiligten in Frankreich einig. Das jetzige Schulsystem ist mehr als überholungsbedürftig. Jeder Pisa-Bericht spricht ein vernichtendes Urteil. Und wenn es eine einzige Zahl gibt, die das Erziehungssystem mit der Note „ungenügend“ disqualifiziert, dann diese: Jedes Jahr brechen 140.000 junge Französinnen und Franzosen ihre Schulausbildung vorzeitig ab.

Die Eltern der besten SchülerInnen befürchten jetzt, dass das sinkende Niveau sich für ihre Sprösslinge als Nachteil erweist. Sie verteidigen darum die Eliteklassen, die sich in vielen öffentlichen Mittelschulen ganz inoffiziell herausgebildet haben. Das sind traditionell meistens die Klassen mit Deutsch als erster Fremdsprache und jene mit Schülern aus meist sozial gehobenen Kreisen, die Latein und Griechisch wählen.

Der Interessenkonflikt im Reformstreit hat damit fast unverhofft den Charakter eines Klassenkampfs angenommen. Das wirkliche Risiko in diesem Streit ist aber, dass einmal mehr aus Angst vor Änderungen am Ende gar nichts geändert wird.

RUDOLF BALMER AUS PARIS