EIN BUNDESPOLIZIST HAT EINEN FLÜCHTLING GEQUÄLT. DAS FEHLVERHALTEN ALLER, DIE NICHT HINGESEHEN ODER ÄNGSTLICH WEGGESCHAUT HABEN, DAS IST DAS GEFÄHRLICHE, DARAUS ENTSTEHT ZUM BEISPIEL FASCHISMUS
: Ein offizieller Aufreger

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Ein Polizist, ein Beamter quält Menschen, die sich in Gewahrsam befinden und brüstet sich damit. Hier, in Deutschland, in Niedersachsen, im Mai 2015. Wundert mich das? Regt mich das auf? Glücklicherweise regt das sowohl mich als auch andere Leute auf. Glücklicherweise ist das jetzt ein offizieller Aufreger, auch wenn noch nicht zu Ende ermittelt worden ist, wenn man also immer sagen muss, „wenn“. Wenn das stimmt. Wenn das wirklich so ist. Es regt mich also auf.

Es regt mich sogar sehr auf. Mich regen auch alle auf, die dem Wenn noch ein Aber entgegensetzen. „Aber die Polizeibeamten haben es auch nicht einfach.“ Weil sie es nämlich in ihrer Arbeitszeit mit Leuten zu tun haben, die – wer hätte das gedacht – manchmal kriminell sind. Tatsächlich haben Polizeibeamte manchmal mit Kriminellen zu tun, die nicht die Normen unserer Gesellschaft akzeptieren oder sie erst gar nicht kennen.

Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, sind mit den Regeln unserer Gesellschaft naturgemäß nicht vertraut und naturgemäß sind sie an Regelverstöße gewöhnt, sonst wären sie über keine Grenze gekommen, aber ich möchte den sehen, der sich an Regeln hält, wenn es um sein eigenes Überleben geht.

Ich möchte den Kommentarklaus fragen, wie er in einem Krisengebiet, im Krieg oder zwischen Verhungernden die Gesetze befolgt und was sie ihm dann noch wert sind? Das möchte ich alle fragen, die sich so auf Recht und Ordnung berufen, weil sie in Recht und Ordnung ihr Häuschen gebaut haben.

Ich bin auch für Recht. Und ich habe keine Ahnung, wie wir ohne Gesetze leben sollen. Aber einer, der es sich zum Beruf gemacht hat, eben die Ordnung zu verteidigen, und ich will nicht über die Motivation der Berufswahl spekulieren und die auch nicht lächerlich machen, der hat unendlich viel weniger Verständnis verdient, wenn er Gesetze überschreitet und seine Macht missbraucht. Denn er befindet sich in keiner Notlage.

Vielleicht sollten Polizisten tatsächlich Eignungstests unterzogen werden. Vielleicht sollten Polizisten, die sadistische Wesenszüge besitzen, nicht zugelassen werden. Vielleicht könnte man das herausfinden. Vielleicht ist aber ein einzelner Mensch nie das Problem. Denn wie könnte ein einzelner Beamter überhaupt Dinge tun, wie sie jetzt in diesem Falle jemandem vorgeworfen werden, wenn nicht viele oder alle anderen dies hinnehmen würden?

Vielleicht ist das das eigentlich Erschreckende. Denn, dass Menschen sich fehlerhaft verhalten oder ungeeignet sind, dass es ihnen an Empathie mangelt, dass sie, was soziale Kompetenz, moralisches Bewusstsein und humanistische Bildung anbelangt, im Einzelnen unterentwickelt und nicht lernfähig sind, das kommt vor. Das wird es immer wieder geben, das lässt sich leider gar nicht verhindern.

Dass sie sich aber in einem System, das dem Schutz von Menschen dienen soll, ausbreiten und entfalten können, dass sie ihre Unfähigkeit und ihr Fehlverhalten ausleben und ihre Macht in den Dienst ihrer moralischen Schwäche stellen können, das spricht vor allem auch gegen das System. Das Fehlverhalten aller, die Schwäche aller, die nicht zugehört, nicht hingesehen oder auch ängstlich weggeschaut haben, das ist das Gefährliche, das ist es schon immer gewesen, daraus entsteht zum Beispiel Faschismus.

Ich habe selbst der Polizei schon manche Male feindlich gegenüber gestanden, jede Demonstration hat ihre eigene Dynamik, und dabei entsteht manchmal ein Gefühl, auf beiden Seiten, das nicht vernünftig ist. Die menschliche Vernunft ist aber – mehr als das Gefühl – zielführend, wenn verhandelt wird – im Großen, in der Politik, auf der Straße und in der kleinen Zelle. Die Vernunft ist möglicherweise der einzige gemeinsame Nenner derer, die, ob Staatsbeamter oder einfach nur Mensch, zum Mindesten einen guten Willen haben.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.