„Keinen Präzedenzfall schaffen“

NOT I Der Bezirk musste die Zelte im Tiergarten räumen lassen, damit kein zweiter Oranienplatz entsteht, sagt Stephan von Dassel (Grüne), der Sozialstadtrat von Mitte

■ 48, ist Diplom-Politologe, seit 2011 ist der Grüne in Mitte stellvertetender Bürgermeister und Stadtrat für Soziales.

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE

taz: Herr von Dassel, wer hat angeordnet, die Obdachlosen aus dem Tiergarten zu räumen?

Stephan von Dassel: Das Grünflächenamt Mitte hat Amtshilfe beim Ordnungsamt und der Polizei beantragt. Im Tiergarten, der zudem ein Gartendenkmal ist, ist wildes Campieren nicht zulässig.

Haben Sie bei der Bezirksamtssitzung am gestrigen Dienstag über das Thema gesprochen?

Ja. Wir haben für den Bezirkshaushalt 2016/17 beschlossen, 100.000 Euro für ein Platzmanagement bereitzustellen. Damit sollen zwei Sozialarbeiter finanziert werden. Sie sollen obdachlose Menschen – sei es nun am Leopoldplatz, am Hansaplatz oder auch im Tiergarten – direkt beraten.

Auf der Insel im Neuen See sollen 150 Leute gelebt haben.

Das glaube ich nicht. Bei der Räumung sollen fünf Leute gewesen sein. Wenn es 150 waren, ist das ein Beleg dafür, dass man einschreiten musste. Eine Grünanlage kann nicht dafür herhalten, die sozialen Verwerfungen in Europa abzumildern, sosehr mir die auch selber wehtun.

Warum wurde gerade jetzt geräumt?

Wir haben nicht die Kapazitäten, sofort gegen jeden Misstand vorzugehen. Deswegen dauert es manchmal, bis man aktiv wird. Zudem gab es massive Beschwerden von Spaziergängern und Mitarbeitern des Grünflächenamts, die dort arbeiten. Die Zustände waren einfach nicht mehr tolerierbar.

Haben Sie Angst vor einem zweiten Oranienplatz?

So ist es. Wir dürfen keinen Präzedenzfall schaffen. Es darf nicht dazu kommen, dass wir durch eine Tolerierung Erwartungen wecken, die man nicht erfüllen kann.

Seit die Winterquartiere zu sind, gibt es noch mehr Obdachlose. Hat Berlin zu wenig Notunterkünfte?

Es wird wahrscheinlich nie genug Plätze geben. Wir wissen ja auch, dass Menschen, die aus europäischen oder außereuropäischen Ländern kommen, sagen: Lieber in Deutschland schlecht leben als woanders vielleicht noch schlechter. Dieses Problem lässt sich auch mit 50 zusätzlichen Schlafplätzen nicht lösen.

Was wäre denn eine Lösung?

„Weder Tolerierung noch Nichttolerierung ist eine Lösung“

STEPHAN VON DASSEL, SOZIALSTADTRAT

Das soziale Ungleichgewicht in Europa müsste sich ändern. Aber das ist erst mal ein Wunschgedanke.

Was bieten Sie den Leuten an, wenn sie aus dem Tiergarten geräumt werden?

Wir können ihnen gar nichts anbieten. Leistungsrechtlich haben sie keine Ansprüche. Allenfalls können wir eine Rückkehrhilfe geben. Wir können sie auf die Möglichkeiten der Jobsuche hinweisen, aber meistens wissen die Leute, dass es Jobpoints gibt, wo die Stellenangebote aushängen. Unser Plan ist, im Rahmen eines europäischen Programms einen polnischen Sozialarbeiter herzuholen, der diese Menschen vielleicht besser beraten kann.

Fühlen Sie sich als Bezirk vom Senat alleingelassen?

Wir hätten gern ein bisschen mehr Geld, zum Bespiel um das neue Platzmanagement zu finanzieren. Aber egal, von wem wir diese 100.000 Euro bekommen, es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das ist ein unlösbares Problem. Weder die Tolerierung noch die Nichttolerierung ist eine Lösung.