AMERICAN PIE
: Da ist der Wurm drin

BASKETBALL Just in den Playoffs verlieren die Atlanta Hawks das Vertrauen ins eigene Spiel. Blöd, denn jetzt kommt LeBron James

Der Experte fand, es sei mal an der Zeit, Streicheleinheiten zu verteilen. Die Atlanta Hawks, teilte der Fachmann mit, die würden schon „sehr gut zusammenspielen“, ihre Ausgeglichenheit sei beeindruckend und nicht umsonst hätten sie bislang so viele Spiele gewonnen. Das Lob kam von einem Kenner. Sein Name: LeBron James. Seine Qualifikation: aktuell bester Basketballspieler des Planeten.

Allerdings: Bei Lichte betrachtet, kann man die LeBron’schen Lobeshymnen wohl in die Schublade psychologische Kriegsführung einordnen. Denn wenn James heute Nacht mit seinen Cleveland Cavaliers zum ersten Spiel des NBA-Halbfinales in Atlanta bei der Mannschaft des jungen deutschen Aufbauspielers Dennis Schröder antritt, dann gibt es, da sind sich alle anderen Experten einig, nur einen Favoriten: Cleveland.

Dafür gibt es genau zwei Gründe: Der eine ist James selbst, der in grandioser Form ist und das Viertelfinale gegen Chicago nahezu im Alleingang entschied. Der zweite Grund ist, dass James als Experte nicht ganz so auf der Höhe ist wie als Basketballspieler. Denn mit der gefürchteten Ausgeglichenheit der Hawks ist es aktuell nicht mehr weit her.

Rotierender Ball

„Jeder, der für die Hawks auf dem Platz steht, ist gefährlich“, hat James am Montag noch einmal bekräftigt. Tatsache aber ist, dass vor allem im Angriffsspiel von Atlanta der Wurm drin ist. In der regulären Saison überzeugte die Mannschaft, für die der 21-jährige Schröder meist als erste Option von der Bank kommt, mit flüssigen Passspiel, viel Bewegung und einem selbstlosen Auftreten aller Akteure. Der Ball rotierte so lange, bis der freie Mann unterm Korb gefunden war oder einer der guten Distanzschützen ungedeckt stand.

Diese Philosophie, die sich eher an europäischen Basketballideen orientiert und dem in der NBA gepflegten Superstarsystem diametral entgegensteht, hatte Hawks-Chefcoach Mike Budenholzer aus Texas mitgebracht, wo er bei den San Antonio Spurs 18 Jahre lang als Assistent unter Gregg Popovich arbeitete und vier Meistertitel gewann. So erzielten die Hawks überlegen die beste Bilanz in der Eastern Conference, und Budenholzer selbst wurde zum NBA-Trainer des Jahres gewählt.

Aber schon in den letzten Auftritten während der regulären Saison war das auf ständiger Bewegung, zusätzlichen Laufwegen und viel Einsatz beruhende Spiel der Hawks zum Erliegen gekommen. Ein Trend, der sich in den Playoffs fortsetzte, als Atlanta zuerst überraschend viel Mühe hatte gegen die krassen Außenseiter von den Brooklyn Nets. Es war, als hätten die Hawks das Zutrauen in das eigene System verloren, und auch in der zweiten Runde gegen Washington benötigten Schröder und seine Kollegen viel Glück, um sich durchzusetzen.

Deshalb werden den Hawks nun nur noch Außenseiterchancen gegen Cleveland eingeräumt. Zwar hat Atlanta drei der vier bisherigen Begegnungen in dieser Spielzeit für sich entschieden, zudem fehlt bei Cleveland mit Flügelspieler Kevin Love verletzungsbedingt eine zentrale Figur, und auch Kyrie Irving, Nachwuchsstar hinter LeBron, ist angeschlagen und humpelte bislang durch die Playoffs. Aber das, was James bislang gezeigt hat, war spektakulär: Es gibt bessere Punktesammler, bessere Rebounder und bessere Point Guards als den mittlerweile 30-Jährigen, aber es gibt keinen so kompletten Spieler.

Einem LeBron James, der notfalls alle fünf Positionen auf dem Feld übernehmen könnte, müssen die Hawks ihr selbstloses, radikal mannschaftsdienliches Konzept entgegenstellen. Dabei kommt Schröder eine zentrale Aufgabe zu. Der Braunschweiger wird – wie in nahezu jedem Spiel – der schnellste Mann auf dem Platz sein und ist damit prädestiniert, die größte Schwachstelle der Cavs auszunutzen: Kyrie Irving, der sich zwar für den Auftakt am Mittwoch gesund gemeldet hat, aber sich immer noch mit lädiertem Knie und Knöchel herumplagt. Das sollte den Jungstar vor allem in der Defensive einschränken und Schröder reichlich Gelegenheit geben, zum Korb zu ziehen und die Einschätzungen des Experten LeBron James zu bestätigen.

THOMAS WINKLER