LESERINNENBRIEFE
:

Demokratiedefizit

■ betr.: „Wahl ohne Wahl“, taz vom 11. 5. 15

Sehr gute Wahl des Titels! Besser kann man es kurz und knapp nicht ausdrücken. An der Wahl der „Verwalter des Mangels“ möchten 51 Prozent der Wähler nicht mehr teilhaben. Besten Dank auch für die Relativierung der Stimmen!

Deutschland ist das reichste Land der Eurozone, das zweitreichste Land Europas. Wann endlich sehen die großen Volksparteien, dass wir genug Geld haben, es bloß ungerecht verteilt ist? Zweitens, dass komischerweise die kaum Steuern zahlen, die genug Geld haben und es horten? Allein die Linke weist darauf hin. Das Umdenken muss aber von den großen Parteien kommen. Sonst haben wir ein Demokratiedefizit. NORBERT VOSS, Berlin

SPD erreicht Unterschicht nicht

■ betr.: „Erosion der Demokratie“, taz vom 12. 5. 15

Ich kann nicht erkennen, dass jemanden, der etwas zu sagen hat, die sinkende Wahlbeteiligung wirklich stört. Die Parlamente werden trotzdem gefüllt, Regierungen trotzdem gewählt, Steuern trotzdem eingenommen und ausgegeben. Erst recht stört nicht, dass sich vor allem sozial Benachteiligte der Wahl verweigern. Sie beteiligen sich nicht an Debatten, haben weniger Konsum- und Kapitalgewicht und finanzieren auch nicht die Parteien. Alle paar Monate Krokodilstränen in der Berliner Runde, das war’s.

Und was die SPD angeht, die hat sich offenbar entschlossen, um die verbliebenen Anteile am Politmarkt zu kämpfen (die „Mitte“), statt den Politmarkt für sich zu vergrößern und endlich mal wieder sozialdemokratisch zu werden. Interessant, dass genau die gleiche Diskussion auch in Großbritannien bei Labour läuft, ebenso in Frankreich und anderswo. Die Sozis können die „Unterschicht“ schon lange nicht mehr erreichen, wollen es wohl auch nicht mehr. Vielleicht braucht Deutschland auch so etwas wie Podemos, eine simple Empörung von unten und den schlichten Mut, Forderungen zu stellen. Solange haben die oben nichts von der Politik zu befürchten und die unten nichts von ihr zu erwarten.MAIK HARMS, Hamburg

Tiefer liegende Ursache

■ betr.: „Erosion der Demokratie“, taz vom 12. 5. 15

Ist die tiefer liegende Ursache der hier richtig beschriebenen Entwicklungen nicht eine zunehmende ökonomische und soziale Disparität? Und ist in diesem Zusammenhang die Formulierung „Schichten, die traditionell eher politikfern sind“, hilfreich? Von Wählern, Bürgern oder besser noch Menschen zu sprechen wäre angemessener. OLIVER HANNAPPEL, Mühltal

Erstarrte Humanität

■ betr.: „Selbstzufrieden und kaltschnäuzig“, taz vom 11. 5. 15

Gefreut habe ich mich über die klare Haltung zur gefährdenden Versorgung der Asylsuchenden in Deutschland. Allerdings bin ich sehr enttäuscht darüber, dass kein Wort zur gar nicht vorhandenen Versorgung der illegal bei uns lebenden Menschen verloren wird, ebenso wenig zur nicht vorhandenen Versorgung der vielen in einer Grauzone „legal-illegal“ bei uns lebenden Kranken aus osteuropäischen Ländern. Im MediBüro Kiel vermitteln wir diese Kranken an Arztpraxen, die bereit sind, ehrenamtlich solche Kranken zu versorgen. Einige Beispiele aus unserer Arbeit sollen das deutlich machen: Eine syrische Frau, etwa 60 Jahre alt, ist aus dem syrischen Krieg nach Spanien geflohen. Dort wurde sie abgewiesen. Sie erreichte Kiel illegal und wir stellten in der Sprechstunde mithilfe von Fachärzten eine Uterus-Krebserkrankung fest. Sie konnte ehrenamtlich in einer Klinik behandelt werden. Ein etwa 60-jähriger kurdischer Mann, der hier illegal lebt, hatte bereits einen Herzinfarkt überlebt. In der Sprechstunde wurde wieder eine neue Angina Pectoris, also die Vorstufe eines neuen Infarktes, festgestellt. Er konnte hier nicht behandelt werden. Und: Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein lobte in diesem Jahr zwei PsychotherapeuthInnen mit dem „Goldenen Leuchtturm“ aus, weil sie jahrelang ehrenamtlich Traumatisierte begleitet hatten. Sie waren sich einig, dass die traumatisierten Asylsuchenden zusätzlich durch die deutsche Verwaltung traumatisiert werden. Man nennt das „Verfahrenstraumatisierung“.

Sehr erfreulich ist, wie lebendig die Bürgergesellschaft diese Aufgaben ehrenamtlich übernimmt. Umso deutlicher wird die leere und erstarrte Humanität der Großen Koalition. Diese ist in dem oben genannten taz-Artikel differenziert beschrieben, eben „selbstzufrieden und kaltschnäuzig“. PETER REIBISCH, Kiel

Business-as-usual-Haltung

■ betr.: „Risse im Fundament“, taz vom 12. 5. 15

Ralf Fücks hat einen wesentlichen Punkt unerwähnt gelassen, nämlich, dass die Initiatoren der internationalen Boycott-, Divestment-, Sanctions-Kampagne Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft sind, die damit eine gewaltfreie Methode anwenden, Druck auf Israel auszuüben. Anstatt dies zu unterstützen, empfiehlt Fücks das Übliche in noch größerem Ausmaß, nämlich Beziehungen und Kooperation mit dem Staat Israel auszubauen, egal wer in Jerusalem regiert. Genau diese Business-as-usual-Haltung hat allerdings dazu geführt, dass inzwischen mehr als 600.000 jüdische Siedler im Westjordanland leben, der Gazastreifen noch immer blockiert ist und es bisher noch immer keinen Staat gibt, der allen seinen Bürgern die gleichen Rechte garantiert.MANUELA KUNKEL, Stuttgart