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TOURISTENPLAGE IM WHITE TRASH, VERSTECKTE SEKTGLÄSER IM FREUNDESKREIS UND NACKTE TEMPELHUREN IN DER ZWÖLFTONOPERImmer wieder zu spät kommen

JENNI ZYLKA

Tolle Woche! Mittwoch sangen schon die Sterne im HAU Songs über das Flüchten und über Convenience Shops und boten als Add-On den Elektropunk-Gentleman Chris Imler. Und obwohl meine Nachtblindheit im Alter stetig zunimmt, ich insofern permanent über Taschen und hockende Menschen im dunklen Zuschauerraum stolperte, bin ich sicher, dass alle ganz blendend aussahen. Die sich verstärkenden Altersfehlsichtigkeiten sind eh nur ein Vorbeugen der Natur, damit der Mensch ein wenig gnädiger mit den altersbedingten Veränderungen des Umfelds und sich selbst umgeht. Mit zusammengekniffenen Augen lassen sich Altersflecken schließlich auch als süße Sommersprossen wahrnehmen.

Freitag spielten dann zum zweiten Mal die Franklys in Berlin – Garagen-Riot-Rock aus London, mit Damen, denen die Frisuren beim Rocken aufs Angenehmste egal sind und die auch mit sogenanntem (und bereits bei Renoir bekannten) „halben Pferdeschwanz“, bei dem nur das Deckhaar zusammengebunden ist, die Heads bangen, dass einem vor Freude schwindelig wird. Vorn stand man also, tanzte und klatschte frenetisch, hinten saßen fassungslose Touristenfamilien und niedersächsische Reisegruppen in Steppwesten an Tischen und versuchten, über den Fuzzsound hinweg anhand von U-Bahn-Plänen den schnellen Rückzug zu planen – das White Trash Fast Food scheint es nicht leicht zu haben, seit man aus dem langsam ruhiger werdenden Prenzlauer Berg an die Spitze der gruseligen Tourimeile um die Warschauer Straße vertrieben wurde.

Beknackt allerdings, dass diese Spitzenband bereits fast fertig war, als wir kurz vor dem angekündigten Konzertbeginn auf der Matte standen und nach Cremant schrien: Der Club habe kurzerhand die Reihenfolge von Vor- und Hauptband vertauscht, entschuldigte sich später die reizende Schlagzeugerin. Und so musste ich die mit Mühe und Not zu ihrem Glück gezwungenen Freunde, denen ich wochenlang (seit dem letzten Auftritt im Bassy) wegen der Band in den Ohren gelegen hatte, irgendwie vertrösten und auf YouTube-Videos verweisen, was bekanntlich nicht mal der halbe Spaß, sondern höchstens ein Achtel Spaß, ach, ein Sechzehntel Spaß ist.

Zur Privatparty am Samstag war die Li-La-Laune wieder oben. Ein extrem albernes Trink-Tic-Tac-Toe-Spiel stand auf dem Tisch, bei dem die Kreuze und Kreise sich auf neun kleinen Schnapsgläschen befanden, sodass der Verlierer … nun ja, wie Trinkspiele eben so sind, fragt nur mal die Jugend. Später wurden Tänze ausgedacht und Bierflaschen / klebrige Sektgläser in der Wohnung versteckt – man will den Gastgebern schließlich eine Erinnerung dalassen.

Von der Musik umgehauen

Sonntag kamen wir tatsächlich schon wieder zu spät, diesmal aber aus Eigenverschulden – wir dachten, die Aufführung von Schönbergs Zwölftonoper „Moses und Aron“, die unter anderem in dieser Zeitung begeistert besprochen wurde, beginne um 19.30 Uhr. Als wir uns in der Komischen Oper unter „Pscht!“-Rufen auf die letzten Plätze warfen, stand aber schon das gesamte Volk Israels auf der Bühne und streckte die zitternden Hände nach vorn – ein Glück, dass dieses irre und grandios inszenierte Stück derart reichhaltig ist, dass man auch von einer halben Stunde weniger Musik umgehauen wird. Nach dem Chor-Erlebnis hingen wir noch bei einem Cocktail im Würgeengel dem Gedanken nach, ob die Tatsache, dass Schönberg im Original, 1954, eigentlich „vier nackte Jungfrauen“ bzw. Tempelhuren im zweiten Akt auf der Bühne haben wollte, wohl einst mehr Leute in die Oper gezogen hat, als normalerweise Lust auf demokratisch-dodekafonischen Zwölftonsound hätten. Und wenn schon. Ich gucke auch gern Nackte an.

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