Ein Blick in die wackelige Zukunft

WAHL Falls Rot-Grün weiterhin Bremen regiert, müssen SPD und Grüne sich in den Koalitionsverhandlungen einigen – über Bauvorhaben, Investitionen und Senatsposten

Das ist die Überraschung im Vergleich zu den Wahlumfragen, die noch vor einer Woche ein einigermaßen konstantes Ergebnis prognostiziert hatten: Die SPD kann ihr Ergebnis von vor vier Jahren nicht halten, sondern wird vermutlich am Ende der Auszählung mit einem Minus von mindestens fünf Prozent abschneiden.

Dieter Reinken, der SPD-Landesvorsitzende, sagt in einer ersten Stellungnahme am Wahlabend um 18 Uhr eher trotzig, der Abstand zur CDU sei doch noch deutlich und ein klarer Auftrag, die Gespräche um die Senatsbildung zu führen. Ob es für Rot-Grün reichen wird, ist nach der ARD-Umfrage zu diesem Zeitpunkt noch offen.

Bürgermeister Jens Böhrnsen, sagt: „Wir hatten schon schönere Wahlabende.“ In den nächsten Tagen müsse die Partei sich die Ergebnisse genau anschauen. Und er hat einen Trost: Der Abstand zur CDU betrage immer noch zehn Prozent. Er wolle den Regierungsauftrag annehmen. Die Wahlschlappe sei dabei eine Herausforderung.  KAWE

VON JEAN-PHILIPP BAECK

Das grüne Kernthema Umweltschutz birgt den meisten Konfliktstoff

Es wird eng für eine rot-grüne Mehrheit: Am frühen Sonntagabend sieht es aus, als ziehe die AfD ein, SPD und Grüne kämen dann nur noch exakt auf die nötigen 42 Sitze. Erst am Mittwoch kommt das vorläufige amtliche Endergebnis. Über die Besetzung der Senatsressorts und die Politik der nächsten vier Jahre wird dennoch diskutiert. Und da gibt es Themen mit Streitpotenzial.

Eines davon ist Brokhuchting. Dass das kleine Überschwemmungsgebiet nicht bebaut wird, ist den Grünen ebenso wichtig wie die Naturbelassung der Binnendüne in Blumenthal oder der Osterholzer Feldmark. Dabei geht es um mehr als die freien Flächen: Wohnungsbau-Politik wird in Bremen in den nächsten Jahren von Bedeutung sein. Die Grünen setzen auf die „Innenentwicklung“, die Sozialdemokraten wollen expandieren: Randbezirke aufzuwerten, kann aus ihrer Sicht die Abwanderung ins Umland aufhalten.

Beim SPD-Ergebnis geht ein Stöhnen durch den „Filosoof“ vor der Schwankhalle. Das eigene Resultat nehmen die Grünen auf ihrer Wahlparty hingegen schweigend hin: Es sind die erwarteten rund 15 Prozent der Vor-Fukushima-Zeit. Mit Grausen erfüllt jetzt viele die Vorstellung, durch den SPD-Abrutsch nur noch – wenn überhaupt – mit einer Stimme Mehrheit zu regieren. Könnte das gut gehen? Der Wahlkampf hat zwischen einigen grünen Kandidaten tiefe Gräben gerissen. Gebietsabsprachen wurden nicht eingehalten, persönliche Plakatier-Obergrenzen ebenso wenig. Schlechte Voraussetzungen, wenn es auf jede Stimme ankommt.

Wenn’s dennoch klappt, wäre es immerhin ein neuer grüner Superlativ, das betonen die Optimistischeren im „Filosoof“: Bislang noch nie und nirgendwo ging eine grüne Regierungsbeteiligung in die dritte Legislatur. „Außerdem ist es natürlich ein Vorteil“, tröstet ein altgedienter Grüner, „wenn die SPD beim Verhandeln nicht so dicke Backen machen kann.“  HB

Das grüne Kernthema Umweltschutz birgt mit der SPD den meisten Konfliktstoff. Uneinigkeit herrscht etwa bei der Weservertiefung. Die SPD-Mehrheit will den Fluss als Rückgrat der Wirtschaft ausbauen – die Grünen sind dagegen. Eine erneute Entscheidung stünde nur an, wenn der BUND mit seiner Klage gegen die Vertiefung vor dem Europäischen Gerichtshof Recht bekäme. Ein Urteil wird demnächst erwartet – der Zank wird bis dahin wohl umschifft.

Als ihr Balken in der 18-Uhr-Prognose erscheint, ist bei den Linken im Kulturzentrum Schlachthof vor Jubel kein Wort mehr zu verstehen: 9,5 Prozent. Die Fraktion liegt sich in den Armen, manche wischen sich gar Tränen aus den Augen. Die Prognosen der letzten Tage waren okay, heute Abend ist noch deutlich besser.

Gefasst wirkt nur Spitzenkandidatin Kristina Vogt. Die Oppositionsarbeit der vergangenen vier Jahre sei gut und konstruktiv gewesen, sagt sie in der Live-Schaltung aus dem Rathaus: Bildung, Wohnungsbau, die soziale Frage ... „Ach, Mensch, Kristina“, ruft einer der Feiernden.

Landessprecherin Doris Achelwilm ist „total geflasht“. Ein Zufallsergebnis sei der Erfolg aber nicht, sagt sie, sondern „vier Jahre harte Arbeit“. Ihr Kollege Christoph Spehr macht sich Sorgen wegen der niedrigen Wahlbeteiligung. Schuld habe die Regierung: „Wer als Katzenfreund Werbung macht“, kommentiert Spehr den jüngsten Auftritt des Bürgermeisters – „der spekuliert doch darauf, dass die Leute zu Hause bleiben“.  JPK

Zum Bau des Offshore-Terminals hingegen haben sich die Grünen im Wahlprogramm mittlerweile bekannt, anders als für die SPD allerdings bleibt für sie eine Vollbremsung noch denkbar, sollte die Wirtschaftlichkeit deutlich infrage stehen.

„Motschi! Motschi! Motschi! Motschi! Motschi!“ Der Jubel ist groß, als die CDU-Spitzenkandidatin die Bühne betritt, kurz nach der ersten Wahlprognose, mit dem Ehemann an ihrer Seite. „Wir haben gewonnen“, sagt Elisabeth Motschmann dann. Tosender Applaus.

Doch es ist ein Sieg der Häme, der Häme darüber, dass Rot-Grün „abgestraft“ wurde, wie Motschmann sagt. 23 Prozent für die CDU – „da hätten wir uns sicherlich mehr gewünscht“, sagt Ex-Senator und Parlamentsrückkehrer Jens Eckhoff. 2011 waren es 20 Prozent gewesen, ein historischer Tiefstwert. „Mit dieser Prognose kann man nicht zufrieden sein“, sagt auch Claas Rohmeyer, der noch um seinen Wiedereinzug in die Bürgerschaft bangt. 25 Prozent plus X – das war schließlich das erklärte Ziel der CDU gewesen. Aber sie sind, und das betonen sie alle immer wieder, sie sind wieder zweitstärkste Kraft im Landtag. Zu groß war die Schmach, bei der letzten Wahl hinter die Grünen zurückgefallen zu sein. Die, immerhin, ist nun getilgt.  MNZ

Schon vor der Wahl für Verstimmung gesorgt hatte die Frage nach der Unterbringung von Flüchtlingen und der Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die straffällig wurden. Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) war mit der Einführung einer geschlossenen Unterbringung (GU) vorgeprescht. Die Grünen sind nicht begeistert. Doch auch wenn so mancher von ihnen es nicht wahrhaben will: Die grundsätzliche Einführung einer GU haben sowohl Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) im Senat wie die grüne Fraktion in der Bürgerschaft mitbeschlossen. Gestritten werden könnte nun also noch um das genaue Konzept – was allein genug Zündstoff birgt. Emotional besetzt ist auch die Debatte um die Weserburg. Wieder zeigte Böhrnsen klare Kante – und will das Museum auf dem Teerhof belassen. Für die Grünen bleibt sein Umzug und ein Anschluss an die Kunsthalle eine Option.

Die FDP ist zurück: Nach vier Jahren Parlamentsabstinenz freuen sich die Liberalen und Spitzenkandidatin Lencke Steiner nach der ersten Prognose über Stimmenzuwachs. Mit 6,5 Prozent ist der FDP der Sprung in die Bremer Bürgerschaft gelungen, das war keinesfalls eine sichere Kiste – bei der letzten Bremer Bürgerschaftswahl erreichten die Liberalen nur 2,4 Prozent.

„Das ist das beste Ergebnis seit 20 Jahren, das die FDP hier hingelegt hat“, sagte Lencke Steiner. Bremen dürfe sich auf „beste Bildung, eine florierende Wirtschaft und ein starke Oppositionsstimme“ freuen. In der Arbeit als außerparlamentarische Opposition war die FDP in den letzten vier Jahren kaum wahrnehmbar, abgesehen von Plakaten mit Lebensstil-Slogans.

„Das Wahlergebnis ist ein deutliches Zeichen an das Bundeskanzleramt, 2017 können sie wieder mit uns rechnen“, sagte Magnus Buhlert, stellvertretender Landeschef. „Die FDP hat eine Lücke gefüllt, die CDU, SPD und Grüne nicht schließen konnte.“  SCHM

Drin. Dass die AfD in die Bürgerschaft einzieht, ist auf der Wahlparty der Rechtspopulisten klar. Sie schaffen es laut ersten Prognosen nur sehr knapp auf 5,0 Prozent. „Wir rechnen fest damit, dass wir noch höher kommen“, ruft Piet Leidtreiter, Platz 2 in Bremen und im AfD-Bundesvorstand, dem jubelnden Publikum zu.

In Bremen stand die AfD in Konkurrenz zu den ebenfalls rechtspopulistischen „Bürgern in Wut“, die auf 3,0 Prozent kommen. Wegen Bremerhaven wird deren Spitzenkandidat Jan Timke allerdings erneut in die Bürgerschaft einziehen.

Die AfD bekäme insgesamt fünf Sitze. Christoph Seidl, der in Bremen-Nord die Bürger-Proteste gegen eine Flüchtlings-Unterkunft mitorganisiert hatte, könnte ebenso ins Parlament einziehen wie Alexander Tassis: „Innere Sicherheit, Wirtschaft, sowie die Integrationspolitik“ seien in Bremen die Themen der AfD. Und: „Wir haben etwas gegen illegale Einwanderung, die als Willkommenskultur verkauft wird“, so Tassis zur taz.  JPB

Mehr Inklusion und mehr Ganztagsschulen wollen beide Parteien. Wie die Lehrer aber versorgt, die Lehrerstunden zugewiesen und Stundenausfall vermieden wird – darüber werden sie diskutieren müssen. Wie das Bremer Schulsystem insgesamt ausgerichtet werden soll, wird spätestens am Ende der Legislatur Thema: Denn der „Schulfrieden“, bei dem sich SPD und Grüne 2009 mit der CDU auf ein Nebeneinander von Gymnasien und Oberschulen einigten, sollte zehn Jahre halten. Die SPD steht weiter zum Bildungskonsens, die Grünen wollen evaluieren.

Vielleicht am spannendsten, aber umso unberechenbarer sind die Diskussionen um Pöstchen im Senat. Klar ist nur, dass Hermann Schulte-Sasse (parteilos) als Gesundheitssenator in Rente geht. Die Juristin Antje Grotheer (SPD) gilt als Favoritin für den Posten. Da der Senat 2011 zunächst sieben Ressorts hatte, nun aber auf acht angewachsen ist, und je nach Rechenmodell die Berlinvertretung wie ein eigener Sitz in der Landesregierung gewichtet wird, steht nicht fest, ob die Grünen aufgrund des veränderten Koalitions-Proporz überhaupt einen Posten abtreten müssen. All das wird der Krimi der nächsten Wochen.