KURZKRITIK: ANDREAS SCHNELL ÜBER „DAS GROSSE HEFT“
: Beklemmend zeitlos

Der Krieg, sagt Heraklit, ist der Vater aller Dinge: „Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ Agota Kristóf formulierte in ihrem Roman „Das große Heft“ eine weitere Option: Sie erzählt von zwei namenlosen Zwillingen, die bei der Großmutter auf dem Dorf untergebracht werden, um den Gefahren des Krieges zu entrinnen.

Die Großmutter hat allerdings ihre eigenen Vorstellungen von dieser Landverschickung. Wenn die Jungs nicht arbeiten, bekommen sie nichts zu essen und müssen draußen schlafen. So etwas wie Liebe gibt es in dieser Welt nicht. Weshalb die beiden sich ihren eigenen Reim darauf machen, indem sie sich körperlich und seelisch abhärten, lernen, psychische und physische Schmerzen zu ertragen, zu stehlen, zu erpressen, zu töten. Kristófs Roman erzählt davon in knappen, schmucklosen, glasklaren Sätzen.

Irene Kleinschmidt verkörpert vor allem als Großmutter und Pfarrersmagd mit kargem Ton die Erwachsenen, die, selbst verhärtet, keine Liebe zu geben haben. Justus Ritter und Peter Fasching sind die, äußerlich höchst ungleichen, Zwillinge.

Der Brauhauskeller bietet den intimen Rahmen für eine Inszenierung, die zunächst eher Züge einer szenischen Lesung trägt. Erst allmählich entwickelt Theresa Welge bei ihrem Regie-Debüt daraus Szenen, die auch räumlich langsam ans Publikum heranrücken. Ein quadratischer Metallrahmen wandert dabei aus seiner Ausgangsposition unerbittlich in Richtung Bühnenrand.

Am Ende wird dieser Rahmen von den Zwillingen nüchtern dekonstruiert, seine Bestandteile dienen einem von ihnen zur Flucht über die Grenze: Die Auflösung der letzten Bindung.

Und der verstörende Schluss eines beklemmend zeitlosen Abends.