Scharfschützen und Poesie

GALLERY WEEKEND I Szenen vom Alltag – im Krieg: Im frisch eröffneten BOX.Freiraum ist mit „My Voice Rings Out For Syria“ zeitgenössische Kunst aus Syrien zu entdecken

VON BRIGITTE WERNEBURG

Das großformatige Foto zeigt eine Straßenschlucht in Aleppo, die in regelmäßigen Abständen mit riesigen, aus Laken und Tischdecken zusammengenähten Tüchern verhängt ist. Inmitten dieser zwischen den vom Krieg versehrten Häusern aufgespannten Stoffbahnen fährt, am Ende der Straße, einsam ein Mopedfahrer. Man wünscht ihm Glück, dass die Tücher ihren Zweck erfüllen und sie es den entfernt postierten Scharfschützen des Assad-Regimes unmöglich machen, ihn zu erschießen.

Ammar Abd Rabbos Aufnahme hat große Poesie, denn der Stoff schmückt die leidende Straße auf eine nachgerade festliche Weise. Gleichzeitig ist das Bild ungeheuer instruktiv. Denn wer hier in Deutschland weiß schon von den Scharfschützen und vom Einfallsreichtum derer, die sie ins Visier nehmen? Wer weiß vom heldenhaften Alltag in den vom Krieg belagerten Städten Syriens, wo etwa ein Junge, im Rücken einen ausgebrannten Bus als Schutz, seinen Marktkarren voller Früchte mit einem Strauß künstlicher Blumen verziert hat, um Käufer für seine Waren anzulocken? Ammar Abd Rabbo ist ein bekannter Fotojournalist, und wie er mit seinen Aufnahmen aus Aleppo die gewohnten Katastrophenbilder meidet und mit den scheinbar undramatischen die wirklich aufregenden Bildern findet, das lohnt sich anzuschauen.

Alltag im Kriegsgebiet

Auch die Schwarz-Weiß-Zeichnungen auf der Wand gegenüber im neu eröffneten BOX.Freiraum in Friedrichshain halten detailliert den Alltag in Syrien fest. Hamid Sulaiman, ein ausgebildeter Architekt, erweist sich mit den Szenen von Kindern, die für ein bisschen Wärme ihr Spielzeug verbrennen, oder der zum Veto erhobenen Hand des Vertreters Russlands bei der UN hinsichtlich einer Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, als penibler Chronist aller Aspekte des Konflikts – dieser Bürgerkrieg genannten, gleichwohl von internationalen Interessen instrumentalisierten und befeuerten Auseinandersetzung.

Inzwischen ist Sulaiman auf abenteuerliche Weise nach Frankreich geflohen. Wie legal der Weg ist, auf dem er zur Eröffnung der Ausstellung im BOX.Freiraum nach Berlin kam, möchte und muss man nicht unbedingt wissen. Es ist gut, dass der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) das Grußwort zu der Ausstellung „My Voice Rings Out For Syria“ geschrieben hat.

Die Schau mit zeitgenössischer Kunst aus Syrien, kuratiert von Nour Wali, einer Expertin für syrische Kunst und Kultur, und initiiert von der Kunsthistorikerin Lena Maculan, ist notwendig in Zeiten von Krieg und Vertreibung dort und neu aufbrandender Fremdenfeindlichkeit und hohen Flüchtlingszahlen hier. Sie ist darüber hinaus qualitätsvoll und state of the art in Hinblick auf das internationale zeitgenössische Kunstgeschehen: Fast mag es scheinen, sie strafe jedes politische Anliegen Lügen. Doch keiner der beteiligten Künstler macht ein Hehl daraus, dass die Arbeiten politisch gemeint sind.

In seiner „Resurrection“-Serie porträtierte Jaber Al Azmeh vor allem seine Freunde. Sie waren unter den ersten, die in den Straßen von Damaskus demonstrierten. Al Azmeh wollte diesen Aus- und Aufbruch fotografisch dokumentieren, das ging nur im Freundeskreis. Inzwischen findet er seine Protagonisten aber in Berlin und in London. Die von ihm fotografierten syrischen Frauen und Männer, die Gleichberechtigung, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit fordern, sind Christen, Drusen, Sunniten, Alewiten. Religion hindert sie nicht daran, vernünftige Ideen zu haben.

Blick in den Himmel

Auch die Künstler der Ausstellung sind unterschiedlicher Herkunft und Religion. Lawand, von dem das Gemälde „Mother“ in der Ausstellung stammt, ist ein syrischer Kurde. Kevork Mourad, der das vielschichtig ornamentierte Gemälde „Facing Sky II“ zeigt, hat syrisch-armenische Wurzeln.

Gerade die Malerei fasziniert in der Ausstellung. Ganz bewusst hat Kuratorin Nour Wali mit Mouneer Al Shaarani, Youssef Abdelke und Abdullah Murad drei schon lange anerkannte Positionen zum Ausgangspunkt der Ausstellung gemacht: Meister der Kalligrafie, des Stilllebens und der Abstraktion. Extra für die Schau in Berlin in Auftrag gegeben wurde Houmam Al Sayeds monumentales, zwei mal zwei Meter messendes Gemälde „Exile“. In hinreißender Manier gemalt sehen wir das uns so typisch erscheinende Flüchtlingspaar mit vier Kindern – so typisch bereits in Al Sayeds folkloristisch inspiriertem Malstil, dass es uns fragwürdig wird. Und wir genauer hinschauen. Was will man mehr?

■ „My Voice Rings Out For Syria“: BOX.Freiraum, Boxhagener Str. 96. Am 2./3. Mai 10–18 Uhr, sonst Mi–Fr 15–19 Uhr, bis 17. Juni