AMERICAN PIE
: Eine neue Kappe für alle

FOOTBALL Der Draft wird von der NFL inszeniert wie die Oscar-Verleihung – Favorit auf Platz eins ist Jameis Winston, bislang in Diensten des College-Teams Florida State

Das Auditorium Theatre in Chicago bietet 3000 Plätze. Für die Veranstaltung, die dort am Freitag beginnt, sind allerdings mehr als 79.000 Ticketanfragen eingegangen. Dabei wird keine Rockband zu sehen sein, wie sie im Auditorium Theatre normalerweise auftritt, auch keine Tanzcompagnien, die hier gewöhnlich auf der Bühne stehen. Nein, am Freitag wird eigentlich gar nichts zu sehen sein. Jedenfalls nichts wirklich Spektakuläres: Große, schwere, muskulöse Männer werden auf die Bühne klettern und sich eine Mütze auf den Kopf setzen. Auf der Mütze wird das Logo ihres künftigen Arbeitgebers prangen. Dann werden die starken Männer ein paar wenige Sätze sagen und danach wieder abgehen. Zehn Minuten später kommt dann der nächste starke Mann.

Ein Quotenrenner

Die 3.000 Zuschauer sind, wenn man es genau nimmt, eigentlich Zeugen eines Verwaltungsaktes. Die Klubs der National Football League (NFL) dürfen sich reihum aus den Talenten, die bislang noch auf dem College gespielt haben, bedienen. Das heißt dann „Draft“, wie die Einberufung beim Militär. Ist allerdings mittlerweile ein Quotenrenner, der im Fernsehen übertragen wird. Live, in Farbe und drei Tage lang. Am Ende werden 256 junge Männer eine Kappe bekommen haben.

Diese strukturell eher eintönige Veranstaltung wird mittlerweile inszeniert wie die Oscar-Nacht. Mit rotem Teppich, einem jubelnden und pfeifenden Publikum und Preisträgern, die, nachdem ihr Name aufgerufen wurde, weinend ihre Sitznachbarn umarmen und anschließend auf der Bühne zuerst behaupten, sie seien sprachlos, um dann doch ihrem Trainer, ihrer Mutter und dem lieben Gott zu danken. Dass man es hier dann doch noch mit Sport zu tun hat, daran erinnern immerhin noch die vielköpfigen Experten-Panels, die die langen Pausen mit wilden Spekulationen füllen dürfen, und die zahllosen Draft-Partys in Kneipen, bei denen die Fans jeden neuen Profi ihres Lieblingsteams feiern wie einen Touchdown.

So groß ist das Ereignis geworden, dass schon allein die Entscheidung, wo der Zirkus seine Zelte aufschlägt, Schlagzeilen macht. In diesem Jahr findet der Draft zum ersten Mal seit 1963 nicht in New York statt, sondern in Chicago. Die wichtigen Entscheider aber sind gar nicht vor Ort. Die Talentspäher, Coaches und Manager der 32 NFL-Teams richten auf ihrem jeweiligen Vereinsgelände einen sogenannten „War Room“ ein, in dem sie beratschlagen und entscheiden, welches Talent ihnen am ehesten weiterhelfen kann. Während in Chicago eine Glitzer-Show mit vielen Emotionen in Szene gesetzt wird, verhandeln die Funktionäre hinter den Kulissen mit anderen Mannschaften über Deals, in denen ein eben ausgewählter Spieler eingetauscht wird für einen altgedienten Profi oder künftige Draft-Möglichkeiten.

So wird manche Expertenvorhersage oft in letzter Sekunde über den Haufen geworfen. In diesem Jahr scheint immerhin sicher, wer den prestigeträchtigen Platz als Nummer-eins-Draft-Pick erobern wird. Brauchen die Tampa Bay Buccaneers doch dringend einen fähigen Quarterback, und Jameis Winston, bislang tätig für die College-Mannschaft von Florida State, gilt als erfolgversprechendstes Spielmacher-Talent im Talentpool. Hinter Winston aber beginnt das große Spekulieren, sind Überraschungen vorprogrammiert.

Denn der Draft, und darin besteht wohl auch seine Faszination für die Öffentlichkeit, bleibt vor allem eins: ein großes Glücksspiel. Denn auch wenn die Mannschaften versuchen, nichts dem Zufall zu überlassen, obwohl sie Talente über Jahre beobachten, Berge an statistischem Material analysieren, Kandidaten im Vorfeld in Vorstellungsgesprächen evaluieren und ein Heer an Experten beschäftigen, endet bisweilen auch das vielversprechendste Talent, der lange erwartete Heilsbringer, als Rohrkrepierer.

Mit Pistolen auf Eichhörnchen

Selbst bei Winston, dem man zutraut, das Auditorium Theatre als Number-One-Pick zu verlassen, stellen sich viele Experten Fragen. Die betreffen allerdings nicht so sehr seine sportlichen Fähigkeiten, sondern vornehmlich sein Verhalten abseits des Spielfeldes. Der 21-Jährige wurde während seiner College-Zeit von der Polizei verhaftet, weil er auf dem Campus mit einer Pistole auf Eichhörnchen geschossen hatte, mehrmals beim Ladendiebstahl erwischt und dann auch noch dabei gefilmt, wie er in der Universität auf einen Tisch kletterte und Obszönitäten brüllte. Erst am 16. April wurde ein Zivilverfahren gegen Winston eingeleitet: Eine Frau beschuldigte ihn, sie 2012 vergewaltigt zu haben – die strafrechtlichen Ermittlungen wurden allerdings bereits ergebnislos eingestellt. Aber am Freitag wird sich Jameis Winston trotzdem eine Kappe auf den Kopf setzen dürfen und aller Voraussicht nach – zusammen mit Millionen Football-Fans – eine große Party feiern. THOMAS WINKLER