Die Schattenseiten des Booms

ERNÄHRUNG II Die deutsche Biobranche ist seit 2000 um 280 Prozent gewachsen. Das hat auch Discounter, Massentierhalter und Betrüger angezogen. Deshalb will die EU die Regeln für den Sektor reformieren

BERLIN taz | Als die ersten deutschen Naturkostläden eröffneten, kannte noch jeder jeden: In den 70er Jahren brachten viele Bauern selbst ihre Körner in die Geschäfte. Oder die „Ladner“ fuhren regelmäßig aufs Land, um neue Ware direkt beim Erzeuger abzuholen. Doch das ist lange vorbei. Heute kaufen millionenschwere Großhändler die Bioware von den Bauern und reichen sie an die Läden weiter. Kleine Geschäfte müssen zugunsten bundesweiter Biosupermarktketten aufgeben. Und vor allem: Sogar die nicht gerade als sozial geltenden Discounter wie Aldi und Lidl führen nun Ökoprodukte.

Aber all das hat dazu beigetragen, dass die Biobranche so rasant gewachsen ist wie kaum ein anderer Wirtschaftssektor. 1996 hatten in Deutschland nur 7.353 Bauernhöfe das Ökosiegel. 17 Jahre später waren es nach Behördenangaben etwa dreimal so viele: rund 23.200.

Bio ist laut Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft mit fast 4 Prozent Anteil am gesamten Nahrungsmittelmarkt zwar immer noch eine Nische, aber eine ziemlich große: Vergangenes Jahr gaben die Verbraucher 7,91 Milliarden Euro für Bio aus. Das ist fast viermal so viel wie im Jahr 2000.

Ein Grund für den Boom ist, dass die Europäische Union 1991 in einer Verordnung gesetzlich geregelt hat, was „Bio“ eigentlich ist: zum Beispiel, dass die Bauern auf chemisch-synthetische Pestizide und Dünger verzichten und so die Umwelt schonen müssen. Zum Durchbruch verhalf der Branche auch das staatliche Bio-Siegel inklusive Imagekampagne, das die grüne Bundesagrarministerin Renate Künast 2001 durchsetzte.

Doch die zweistelligen Wachstumsraten hatten auch ihre Schattenseiten: Immer mehr Unternehmer stiegen nicht aus Überzeugung, sondern wegen der Rendite in das Geschäft ein. Manche von ihnen nutzen jedes Schlupfloch in den Gesetzen, um noch billiger zu produzieren, und höhlen den Biogedanken aus. So sind beispielsweise die riesigen Betriebe entstanden, in denen 24.000 Ökolegehennen unter einem Dach leben müssen.

Ein Großteil des deutschen Marktwachstums besteht im Import aus Ländern wie Rumänien, der schwer zu kontrollieren ist. Bei manchen Produkten wie Möhren und Äpfeln ist der Anteil der Einfuhren auf dem Biomarkt mit rund 40 Prozent sogar höher als auf dem konventionellen. Und immer wieder verkaufen Betrüger herkömmlich hergestellte Produkte mit dem teuren Bio-Siegel.

„Weder das heimische Angebot noch der Rechtsrahmen haben aber mit dieser Expansion des Marktes Schritt gehalten“, schreibt die EU-Kommission in ihrem Entwurf für eine neue Öko-Verordnung. Zwar hat die EU das Regelwerk mehrmals überarbeitet und erweitert, aber die Kommission hält es mittlerweile für zu komplex und nicht geeignet, das Vertrauen der Verbraucher in Bio zu erhalten und zu stärken. Deshalb will sie das Gesetz komplett überarbeiten.

Dass es Reformbedarf gibt, sehen auch die deutschen Biolobbyisten. Doch wie die Regelungen im Einzelnen geändert werden müssen, ist umstritten.

JOST MAURIN