SUBJEKTIV BEWERTET
: Lärm & Geschmack

Nils Schuhmacher

Einen „Anti-Lärm-Verein“ rief der Philosoph Theodor Lessing 1908 ins Leben. Es waren nicht allein Dampfmaschinen (seit 1712), Automobile (seit 1886), Hunde (seit mehr als 100.000 Jahren) und Nachbarn (dito), die ihn zu diesem Schritt bewogen, sondern auch: musikalische Untermalungen des Alltags. Der grenzenlosen Differenzierungslust der Wissenschaft verdanken seine Nachkommen die Erkenntnis, dass es diesen und solchen Lärm gibt und dass Lärm kein objektiver Tatbestand, sondern Ausdruck subjektiver Bewertung ist.

Mit dem psychologischen Lärmbegriff wird es also möglich, den Faktor Geschmack ins Zentrum der Betrachtung zu holen. Wer zum Beispiel zum vierten Mal am Tag „Cool Kids“ von Echosmith (30. 4., Grünspan) hört, ist schnell bereit, das Attribut „langweilig“ gegen die Definition „Schall, der stört und schädigt“ auszutauschen. Vorausgesetzt, er ist nicht gleichzeitig Fan von Bands wie Tonbandgerät (1. 5., Große Freiheit). Und auch objektiv Lautes findet seine Abnehmer. Voraussetzung allerdings ist hier der Wunsch, sich von Musik kräftig niederbügeln und nicht auf weichen Wolken wegtragen zu lassen, um von oben Reinhard-Mey-mäßig dem Treiben zuzuschauen. Nur vermeintlich klar ist der Fall bei Musik, die mehr „herausfordernd“ als langweilig oder einfach nur laut daherkommt. Zum Beispiel Vialka (29. 4., Centro Sociale).

Konsensfähig ist die Haltung: Bei „Punk-Polka“ kann ich gleich in den Zirkus gehen. Nur eine kleine Schar hingegen sieht in dem aus Frankreich stammenden Duo aus Schlagzeugerin und Gitarristen eine zwar hektisch-experimentell ausfallende, aber letztlich vor allem interessante Zusammenstellung aus allen möglichen Folk-Spielarten, Polka und Freejazz. Wie immer die Nachfolger des Weltbürgers Lessing es finden mögen: Das ist wohl kein Fall für ihren Verein.