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Archiv-Artikel

„Ich will mir die Möglichkeit offenhalten, in den Untergrund zu gehen“

DIE SÄNGERIN Sophie Hunger ist Schweizer Popstar, musikalisches Wunderkind und die wohl prominenteste Neuberlinerin seit Langem. Ein Gespräch über das Wohnen in Prenzlauer Berg, eigenen Nachwuchs, die Bereitschaft zu einem Leben im Widerstand und die nächtliche Begegnung mit einem Wolf

Sophie Hunger

■ Die Frau: Wird 1983 als Emilie Jeanne-Sophie Welti in Bern geboren. Vater Philippe ist Diplomat, Mutter Myrtha Politikerin. Sie wächst unter anderem in London, Bonn und Zürich auf. Seit September 2014 lebt Hunger in Berlin.

■ Die Musikerin: Ihr erstes Album, „Sketches of Sea“, bringt Hunger 2006 noch im Eigenvertrieb heraus. Schon kurz darauf ist sie für die französische Tageszeitung Libération „das am besten gehütete Geheimnis der Schweiz“ und für den britischen Guardian „Laura Marling, Beth Orton und Björk in einem einzigen Folk-Rock-Paket“ – und steht an der Spitze der eidgenössischen Charts.

■ Das neue Album: Auch auf „Supermoon“ (Caroline/Universal), am Freitag veröffentlicht, demonstriert Hunger wieder das für sie so typische breite Stil-Spektrum von stimmungsvollen Pop-Balladen über jazzige Elemente bis zu Volksmusik-Einflüssen. Sie singt Englisch, Französisch, Deutsch und sogar Schwyzerdütsch – zum Beispiel in dem besonders berührenden Song „Heicho“, in dem jemand beschrieben wird, der zum Sterben in die alte Heimat kommt.

■ Die Berliner Konzerte am 14. 5. im Heimathafen Neukölln und 18. 6. im Kesselhaus sind schon ausverkauft. Termine der Europatour: www.sophiehunger.com.

INTERVIEW THOMAS WINKLER FOTOS MIGUEL LOPES

taz: Frau Hunger, ein Lied soll schuld sein, dass Sie aus Zürich nach Berlin umgezogen sind.

Sophie Hunger: Schuld ist das Lied nicht, aber es hat eine Rolle gespielt.

Der Song heißt „Das Leichteste der Welt“ und stammt von der Band Kid Kopphausen.

Entscheidungen treffe ich meistens eher zufällig. Ich habe überlegt, wohin ich gehen soll. Und in diesem Moment hat sich die Shuffle-Funktion meines iPads für dieses Lied entschieden. Da ist mir aufgefallen: Deutsch ist eine schöne Sprache. Das hat mir bei der Entscheidung für das Land geholfen.

In dem Stück heißt es: „Ich will mich wieder wundern, wieder erstaunt sein, will wie der allererste Mensch zwischen den Dingen stehen und nichts wiedererkennen.“

Ja, genau. Das ist ein Lied über einen Aufbruch. „Ich wurde geboren in einem Fluss und seitdem treibe ich dahin“ – das ist der Anfang. Wenn man wie ich in diesem Moment nicht weiß, wie es weitergehen soll, können einem solche Lieder eine Antwort geben. Dieses sagt: Beweg dich!

Treffen Sie Entscheidungen eigentlich immer so?

Ziemlich oft. Ich habe schon oft Entscheidungen aufgrund von Liedern oder auch von Bildern getroffen. Es kann vorkommen, dass ich Tennis schaue, und Roger Federer spielt auf eine gewisse Art und Weise – und ich ändere die Songs, die wir an dem Abend im Konzert spielen werden.

Angenommen, die Zufallsfunktion hätte in diesem Moment die White Stripes ausgespuckt: Dann würden Sie jetzt in Nashville wohnen?

Nein, ich hab schon auch noch ein bisschen Verstand. Der schaltet sich irgendwann schon auch ein in so einem Prozess. Nein, ich würde zwar sehr gern nach Nashville ziehen, noch lieber nach Austin, aber das geht nicht. Es musste Europa sein, weil ich hier arbeite, hier mein Publikum habe. Ich kann nicht ständig um die halbe Welt fliegen.

Kid Kopphausen stammen ja aus Hamburg – eigentlich hätten Sie dort landen müssen.

Ich kenne Hamburg nicht gut, aber wenn ich mal da war, hat mich die Stadt zu sehr an die Schweiz erinnert. Nach Berlin wollte ich auch deswegen, weil es eine junge Stadt ist. Man merkt, dass Berlin im Gegensatz zu Paris oder London, die seit Ewigkeiten Hauptstädte sind, vor 200 Jahren noch keine Metropole war. Die Strukturen sind noch flexibel, die ganze Stadt ist lebendig. Ich kenne Paris ganz gut, da kann man kaum reüssieren, weil jeder, der auf seinem Stuhl sitzt, ihn nicht mehr hergibt. Diese Städte sind so starr und eng. Hier in Berlin habe ich das Gefühl, ist alles noch sehr provisorisch.

Hat Berlin Ihre Erwartungen denn erfüllt?

Ich hatte kaum Erwartungen. Um ehrlich zu sein, bin ich sehr spontan hierhergekommen. Aber dann war ich nach einer Woche schon sehr glücklich. Ich liebe Berlin. Ich lerne die ganze Zeit neue Leute kennen. Und ich habe sehr schnell ein Netzwerk aufbauen können. Es war sehr leicht, die Menschen hier zu finden, die ich brauche für meine Arbeit, alle sind hier, Musiker aus Kanada oder Frankreich, man findet Spezialisten für jede Aufgabe. Berlin war strategisch eine super Entscheidung.

Warum wollten Sie weg aus der Schweiz?

Ich musste. Ich habe in Zürich zwar auch zur Miete gewohnt, aber eigentlich war es fast wie ein Hausprojekt. Es war ein wenig runtergekommen und deshalb haben wir, obwohl es mitten in der Stadt lag, relativ wenig Miete gezahlt. Ich hatte mein Studio dort, wir haben alle viel Liebe da reingesteckt. Das war wie eine Villa Kunterbunt. Die aber dann verkauft wurde – und da war uns allen klar, dass wir nicht nur aus dem Haus rausmussten, sondern wohl auch aus der Stadt, weil wir in Zürich niemals wieder etwas Ähnliches gefunden hätten.

Es wäre auch für Sie, den Popstar, ein Problem gewesen, eine Wohnung in Zürich zu finden?

Nicht zu finden, aber zu bezahlen. Eine ganz gewöhnliche Zweizimmerwohnung mit 60 Quadratmetern kostet 1.500 Franken [rund 1.450 Euro – Anm. d. Red.] Miete. Aber ich brauche ein Studio, weil ich zu Hause arbeite. Da kann man sich vorstellen, wie teuer das wird. Das ist aber kein Vorwurf an Zürich. Das ist nun mal eine ganz kleine Stadt und ein Finanzplatz, an dem hohe Löhne gezahlt werden. Deshalb bin ich nach Berlin, Prenzlauer Berg, an der Grenze zu Mitte.

Ist es nicht ironisch, dass hohe Mieten Sie aus Zürich vertrieben haben – und Sie jetzt im Zentrum der deutschen Gentrifizierungsdebatte die Mieten weiter hochtreiben?

Davon hatte ich keine Ahnung, als ich herkam. Ich habe mir zehn Wohnungen angesehen, die waren in der ganzen Stadt verteilt. Und die, die ich genommen habe, war einfach die beste für mich. Jetzt im Nachhinein weiß ich, es wäre noch peinlicher gewesen, wenn ich nach Neukölln gezogen wäre. Aber ich habe nicht wirklich eine Meinung zu dieser ganzen Gentrifizierungsdiskussion. Dazu bin ich noch nicht lange genug hier.

Wie wirkt diese Debatte auf einen Neuankömmling wie Sie?

Schon ein wenig provinziell. Das liegt nun mal in der Natur der Sache, wenn eine Stadt so attraktiv ist wie Berlin, dass alle hierherziehen wollen.

Für den Einzelnen ist es aber ein Problem.

Ja, das sehe ich auch. Aber dann müsste man das grundsätzlicher diskutieren. Das ist ein Problem des Kapitalismus, von Angebot und Nachfrage. Wenn man das nicht mehr will, dann muss man sich wehren und dafür sorgen, dass entsprechende Gesetze gemacht werden.

Sie scheinen andere Pläne zu haben. In „Am Radio“ singen Sie: „Drum wär es jetzt Zeit zum Kinderhaben.“ Dazu wäre Prenzlauer Berg ja ideal.

Echt? Ich sehe fast nie Kinder da. Allerdings gehe ich auch eher selten auf Spielplätze. In dem Song geht es auch eher darum, dass die Leute immer sagen, wenn man Kinder bekommt, wäre man weniger egoistisch. Ich finde ja eher, dass Kinderkriegen egoistisch ist, weil es vor allem darum geht, sich selber zu reproduzieren.

Das ist ungefähr der Vorwurf, den auch viele an die Mütter von Prenzlauer Berg haben.

Wirklich? Das hab ich alles nicht gewusst. Scheiße, jetzt kann ich nicht mehr nach Hause gehen. (lacht) Aber ich habe davon wirklich nichts mitgekriegt. In meinem Haus wohnen nur alte Ossis und ein Österreicher.

Also keine konkreten Pläne, Kinder zu bekommen?

Doch, ich denke jeden Tag darüber nach. Aber ich habe ein Problem: Ich will mir zumindest theoretisch die Möglichkeit offenhalten, in den Untergrund gehen zu können. Falls ich irgendwann mal in den Widerstand gegen was auch immer gehen müsste, kann ich mir keine Kinder leisten. Denn mit Kindern wird man erpressbar und außerdem zu egoistisch, weil man die kleine Familie beschützen will.

In den Widerstand?

Ja, das will ich nicht ganz ausschließen.

Widerstand wogegen?

Wenn zum Beispiel in der Schweiz die Rechten an die Macht kämen, dann muss ich vielleicht dagegen kämpfen. Aber man kann keine Kinder haben, wenn man bereit sein muss, notfalls sein Leben zu opfern.

Das ist jetzt ein Witz!

Nein, das meine ich ernst. Wahrscheinlich ist es arrogant, das zu sagen. Weil ich natürlich keine Ahnung habe, was es wirklich bedeutet, in den Untergrund zu gehen – aber ich möchte mir wenigstens die strukturelle Möglichkeit erhalten …

Das würde aber bedeuten, dass man niemals Kinder kriegen könnte, weil die theoretische Möglichkeit, dass sich die Neonazis an die Macht putschen, ja nie ganz auszuschließen ist.

Ja, krass. Aber wahrscheinlich werden die Hormone in meinem Hirn einfach irgendwann zu stark und ich denke dann: Kinder zu haben, das muss jetzt sein. Aber wenn es so weit ist, dann ist der Prenzlauer Berg dazu so gut wie jeder andere Ort. Es kommt doch eh auf die Menschen an. Man braucht die richtigen Freunde, man braucht das richtige Umfeld, um Kinder großzuziehen, dann ist es egal, ob es Zürich oder Berlin oder Teheran ist.

Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit beschreiben Sie in dem Song „Queen Drifter“. Da singen Sie: „It’s been thousand of miles/ I never found a favourite place“. Die Königin der Rumtreiberinnen, sind Sie das selbst?

Ursprünglich hatte ich das zu einer Freundin gesagt: Ey, du bist doch „Queen Drifter“. Aber dann habe ich schnell gemerkt: Eigentlich bin ich das. Ich habe mich in den letzten Monaten tatsächlich mit dem Gedanken abgefunden, dass ich nicht der sesshafte Typ bin, dass ich nirgendwo wirklich auf Dauer werde bleiben können.

In „Queen Drifter“ heißt es auch: „I’m here and I don’t need a reason.“ Lernt man so eine Einstellung als oft umziehende Diplomatentochter?

Da hat wohl eine Art Training stattgefunden. Ich habe das als Kind sehr bewusst erlebt damals, immer wieder alles loslassen zu müssen. Ich habe zwar nicht darunter gelitten, sondern als Kind eher so gesehen: Cool, wir bleiben hier nur vier Jahre, ich kann machen, was ich will. Wenn ich nicht beliebt war, war es nicht so schlimm, denn wir waren ja bald wieder weg, und ich konnte mich neu erfinden. Ich habe damals sehr viel gelogen, Geschichten erfunden. Ich hatte eine lebhafte Fantasie. In der Rückschau würde man vielleicht sagen, ich habe den ständigen Verlust kompensiert. Aber eigentlich mag ich das nicht, dieses ständige Reflektieren seiner selbst, diese freudianische Suche nach dem eigenen Ich, das fand ich schon immer lächerlich. Ich habe die Dinge immer außen gesucht, nie in einem verschlossen Ich.

Ist es dann nicht ironisch, dass Sie Ihr Geld ausgerechnet damit verdienen, auf einer Bühne Ihr Innerstes nach außen zu kehren?

Nein, ich glaube, bei meinen Konzerten geht es überhaupt nicht um mich. Es geht um das Gefühl, das zwischen dem Publikum, der Band und mir entsteht. Wenn man das Publikum rausnehmen würde, dann wäre das alles tot. Es kommt aus mir heraus, es hat natürlich etwas mit mir zu tun, aber ich singe nicht direkt von mir. Die „Queen Drifter“ aus dem Lied, das bin ja nicht eins zu eins ich.

Sie sollen den ganzen Weg vom Flughafen Tegel in den Prenzlauer Berg schon mal zu Fuß gelaufen sein.

Das ist wahr. Ich hatte mein Auto auf dem Parkplatz nicht mehr gefunden, ich wusste nicht mehr, wo ich es abgestellt hatte. Ich kam nachts an, mein Auto ist schwarz und alle Autos in Berlin scheinen auch schwarz zu sein.

Ein Taxi kam nicht infrage?

Nein, das war auch eine Protestaktion.

Protest wogegen?

Gegen mich selbst. Ich habe mich über mich selbst geärgert.

Wie lange waren Sie unterwegs?

Stunden. Es hat ewig gedauert. Aber es war schön. Ich habe einen Wolf getroffen.

Einen Wolf? Von Füchsen habe ich schon gehört …

„Ich habe mich damit abgefunden, dass ich nicht der sesshafte Typ bin, dass ich nirgendwo wirklich auf Dauer werde bleiben können“

Nein, das war schon ein Wolf. Aber mehr will ich darüber nicht erzählen.

Wölfe gehören bislang nicht dazu, aber es gibt eine Menge andere Klischees über Berlin?

Allerdings.

Welche stimmen denn nicht?

Dass der Berliner schroff und unhöflich sein soll, das stimmt schon mal überhaupt nicht. Berliner haben gern eine starke Meinung, das schon. Aber ich mag Leute, die sagen, was sie meinen. Man kann hier gut streiten. Ich hab mal zwei Jahre lang im Rheinland gewohnt, in Bonn, und Berlin ist nicht minder herzlich. In Frankreich oder England wird auch oft gesagt, Berlin sei noch wahnsinnig deutsch, aber auch das stimmt nicht mehr. Berlin ist extrem international geworden – vor allem im Vergleich zu vor zehn Jahren. Auf der Straße hört man alles – nur nicht Deutsch.

Ein anderes Klischee: Berlin ist eine Techno-Stadt.

Ja, das stimmt. Was ich aber interessant finde: Berlin ist zwar eine Techno-Stadt, aber keiner der weltweiten Techno-Stars kommt aus Berlin. Allein aus Frankreich kommen Phoenix, Air, Daft Punk, David Guetta. Das müssten doch eigentlich alles Berliner Acts sein. Das ist schon seltsam, dass diese Musik hier kultiviert wurde und hier groß geworden ist, aber dass dann niemand den Schritt auf die ganz große Bühne geschafft hat.

Ihrem neuen Album, „Supermoon“, ist deutlich anzuhören, dass es zum Teil in Amerika entstanden ist. Wird man auf der nächsten Platte Berlin hören?

Ja, wahrscheinlich. Ich arbeite zu Hause. In meiner Wohnung habe ich ein Zimmer mit all meinen Instrumenten … Aber das ist nicht bewusst, ich merke erst hinterher, welche Einflüsse es gegeben hat.

Dann können wir demnächst mit einem Minimal-Techno-Track von Ihnen rechnen?

Tatsächlich arbeite ich momentan mit Beats. Ich bin auch schon durch die Clubs gezogen. Am besten gefällt es mir allerdings im Magnet.

Der Magnet ist ja eher als Rock-Club bekannt …

Aber die haben gute Bands da. Oft spielen da Gruppen, die beim nächsten Mal schon in größeren Läden auftreten.

Mit Berlin verbindet man eher die After-Hour im Berghain.

Ich war auch schon im Berghain, nur noch nicht um zehn Uhr morgens. Aber wenn man unterwegs ist mit Freunden, dann landet man schon mal zu seltsamen Zeiten in Läden, die von außen gar nicht so aussehen, als wären sie ein Club. Das ist großartig, das ist schon sehr speziell. In Paris gibt es so etwas nicht.

Können Sie sich vorstellen, dass man hier vor lauter Feiern nicht mehr zum Arbeiten kommt? Diese Diskussion gab es mal vor zwei Jahren.

Ich habe diese Diskussion mitgekriegt, weil das unter Musikern wirklich ein Thema ist. Es gibt Musiker, die haben tatsächlich Angst vor Berlin. Die befürchten, wenn sie nach Berlin ziehen, dann wäre das das Ende ihres kreativen Lebens.

Frau Hunger, Sie haben diese Angst nicht?

Nein, man muss halt ein bisschen aufpassen. Aber wenn ich keine Verpflichtungen hätte, keine Termine und keine Auftritte, dann könnte ich mir schon vorstellen, dass es gefährlich werden könnte auch für mich.