Todkrank im Adlon

INTENSITÄT Vom Wunsch, bis zum letzten Moment das Leben auszukosten: Der irische Schriftsteller Hugo Hamilton beschreibt eine besondere Reise nach Berlin

Im Jahr 2008 besuchte der irische Schriftsteller Hugo Hamilton die deutsche Hauptstadt, zusammen mit der hierzulande vielleicht sogar bekannteren Autorin Nuala O’Faolain. Von der sehr besonderen gemeinsamen Reise erzählt Hamilton in seinem neuen Buch.

Für die 1940 geborene O’Faolain ist es die letzte Reise ihres Lebens: Als man bei ihr Krebs diagnostiziert, hat dieser bereits gestreut. Sie entscheidet sich gegen eine Chemotherapie. Im Mai 2008 bittet sie ihren guten Freund, sie für zwei Tage nach Berlin zu begleiten.

Hamilton hat sich für die Form des Romans entschieden, das lässt ihn freier schreiben und zwingt die Erinnerungen nicht in ein ohnehin fadenscheiniges Protokoll vermeintlicher Korrektheit. In diesem Falle ist es aber erlaubt, festzustellen, dass die Figuren Liam und Úna stark mit dem Autor und seiner sterbenskranken Freundin übereinstimmen.

Úna, die bereits im Rollstuhl sitzt, und Liam mieten sich im Adlon ein. Úna macht eine Liste der Orte, die sie sehen will, und Manfred, den sie als Fahrer angeheuert haben, fährt die beiden getreulich überallhin. „Im Auto überkam uns manchmal eine tiefe Traurigkeit. Dann verstummten wir, hingen unseren jeweiligen Gedanken nach, sahen aus dem Fenster. […] Es schien auf der Welt keine Wörter mehr zu geben.“

Liam und Úna finden doch immer wieder Wörter und wenden sie in eine große Offenheit: Ihre Gespräche kreisen um die existenziellen Themen. Bei der Schriftstellerin ist das immer noch und immer wieder ihre trostlose Kindheit als dunkle Quelle ihres Lebens und Schreibens: „Dein Leben ist dein Erzählstoff, sagte sie immer.“ Der Tod des jüngeren Bruders, den sie ihrem Vater anlastet und in einer aufwühlenden Situation schließlich sich selbst, treibt sie um. Immer wieder wird ihr Aufbegehren gegen ein konformes irisches Frauenleben deutlich.

Auch Liam erzählt von seiner Kindheit, in dieser besonderen Situation gelingt es ihm, der sonst ein Meister der Verdrängung ist. Und er spricht davon, wie es war, als er erfuhr, dass er nicht der leibliche Vater seiner Tochter ist. Er und Úna gehen unterschiedlich mit Erinnerungen um, darüber gab es früher Streit. Immer wieder sind Rückblenden in den Text eingebaut – und auch Vorausschauen in jene Zeit kurz nach der Reise, denn nur eine Woche später stirbt Úna.

Hamilton zeichnet seine Freundin in ihrer Zerbrechlichkeit, in ihrer Vehemenz; in ihrer Launenhaftigkeit, ihrer Herzlichkeit; ihrem Wunsch, bis zum letzten Moment das Leben auszukosten. Der Freund ist da, hält das aus. Und er „gewinnt“ auch etwas: eine Intensität der Gegenwart, aber auch ihr muss man standhalten können, denn sie ist herzzerreißend. CAROLA EBELING

Hugo Hamilton: „Jede einzelne Minute“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Luchterhand, München 2014, 352 Seiten, 18,99 Euro