Ein egomanischer Chor

SOLOPROJEKT Der Produzent und Musiker Tobias Siebert wollte einmal ganz für sich Musik machen. Als And The Golden Choir hat er sich jetzt zum vielstimmigen Chor vervielfältigt. Am Montag spielt er – allein – im Lido

Es sind zerbrechliche Songs, die viel vom Folk wissen, denen die Beach Boys nicht unbekannt sind und die vor allem den Soul im Herzen tragen

VON THOMAS WINKLER

Wie ist das eigentlich, die Englein singen hören? Also wirklich. Nicht metaphorisch gesprochen, sondern so: Wenn es sie denn tatsächlich gäbe, die Engel, wie wohl klänge es, wenn sie singen? Eine Frage, die auch Tobias Siebert nicht mit letzter Sicherheit beantworten kann. Aber dank der Umsetzung ein paar ungewöhnlicher Vorgaben und unter Zuhilfenahme einiger altmodischer Studiotricks hat er nun zumindest eine mögliche Antwort auf diese Frage gegeben: Auf „Another Half Life“, seinem ersten Album als And The Golden Choir, scheint man bisweilen tatsächlich die Englein singen zu hören.

And The Golden Choir, den Namen, den sich Siebert für sein erstes Soloprojekt ausgesucht hat, darf man programmatisch verstehen. Die Chöre stehen im Mittelpunkt. Chöre mit himmlischen Harmonien und berauschenden Melodien, die sich in lichte Höhen schrauben. Chöre, die aber aus nur einer einzigen Stimme bestehen.

Alles einzeln eingesungen

Aus der Stimme von Siebert selbst. Die setzt sich, 10-, 15-, 20-, 25-mal immer wieder neu aufgenommen, zu einem gewaltigen Chor zusammen. Dabei hat Siebert, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur einen guten Ruf als Gitarrist und Sänger bei Bands wie Klez.e und Delbo erworben, sondern vor allem als Produzent für Kettcar, Philip Boa oder Me And My Drummer reüssiert hat, auf den naheliegenden Einsatz der Möglichkeiten, die digitale Technik zur Verfügung stellt, verzichtet.

Jede einzelne der unübersichtlich vielen Gesangsstimmen hat Siebert separat aufgenommen. Hat das Band angeworfen, auf seinen Einsatz gewartet, einen Part gesungen, und das Ende des Songs abgewartet. Dasselbe hat er dann wiederholt für jede Gesangsspur und für jedes Instrument von der Gitarre bis zur Triangel. „Ich wollte mehrere Sieberts, die ein Eigenleben bekommen“, sagt Siebert beim Kaffee in seinem Studio. „Ich wollte sehen, ob ich es schaffen kann, als Einzelperson zu einer Gemeinschaft zu werden. Ich bin gerade sehr gern allein.“

Dass er manche Instrumente besser, manche schlechter, und einige wie das Schlagzeug eigentlich gar nicht beherrschte, gehörte zum Konzept der Aufnahmen, für die Siebert die Philosophie der Dogma-Regisseure auf die Musik übertrug, um „konsequent analog zu denken und möglichst große Authentizität und Direktheit herzustellen“. Das war ein Grund, warum sich die Aufnahmen von „Another Half Life“ über vier Jahre lang hinzogen, ein anderer, dass Siebert nebenbei weiter als Produzent arbeitete. Aktuell nimmt er in seinem Kreuzberger Hinterhofstudio neue Platten von Herrenmagazin und Enno Bunger auf.

Als Produzent verdient er sein Geld, And The Golden Choir aber war eine Herzensangelegenheit. Oder: ein radikaler Egotrip für einen 38-Jährigen, der sonst als Musiker in Bands stets auf der Suche nach Kompromissen ist und als Studiodienstleister anderen hilft, ihre Klangvorstellungen umzusetzen. „Ich wollte den Moment, wenn Musik im Studio entsteht, einmal ganz allein genießen. Aber um allein bleiben zu können, musste ich mich vervielfältigen“, so Siebert.

In dieser selbst gewählten Einsamkeit ist nicht nur eine Band entstanden, die aus vielen Sieberts besteht, sondern auch erstaunliche Musik. Musik, die Siebert bei Konzerten nicht mit einer Band, sondern mit einem komplizierten Set aus Plattenspielern, extra geschnittenen Dubplates und einzelnen Instrumenten ebenfalls im egomanischen Alleingang reproduziert. Musik, die überraschend wenig zu tun hat mit dem Diskurs-Grunge-Rock, den Siebert bisher mit seinen Bands fertigte.

Immer wieder irritierend

Stattdessen sind es zerbrechliche Songs, die viel vom Folk wissen, denen die Beach Boys nicht unbekannt sind und die vor allem den Soul im Herzen tragen. Instrumente wie Waldzither, Santur oder Glockenspiel sorgen für außergewöhnliche Klangfarben, die Stimmung ist meist getragen, ja nahezu feierlich, oft hymnisch, stets melancholisch und immer wieder sehr irritierend. Vor allem dann, wenn der Singekreis aus vielen Sieberts zu singen beginnt. Dann scheinen große, längst verblichene Soulgrößen wiederaufzuerstehen. Zu hören sind auch die eigentlich abwesenden Stimmen von Paddy McAloon, dessen Band Prefab Sprout für Siebert als Kind der Achtzigerjahre stark beeinflusst hat, oder von Antony Hegarty, den Siebert sehr verehrt.

Diese Assoziationen sind nicht geplant. Siebert wollte, sagt er, „das Unerwartete finden. Deshalb mag ich es auch, mich an Instrumente zu setzen, die ich eigentlich nicht spielen kann. Da entstehen Sachen, die sonst nicht entstehen.“ Oder eben Sachen, die man schon immer mal hören wollte. Sachen wie, man mag daran glauben oder nicht, der Gesang von Engeln.

■ And The Golden Choir: „Another Half Life“ (Cargo); live am 27. April im Lido