Der Abwehrreflex ist stärker als das Mitgefühl

EUROPA Beim EU-Flüchtlingsgipfel in Brüssel dürfte es vor allem um die Vernichtung von Schleuserbooten gehen. Dazu könnte auch Militär eingesetzt werden

AUS BRÜSSEL ERIC BONSE

Humanitäre Hilfe oder Abschottung? Beim Sonder-EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise am Donnerstag in Brüssel muss die EU Farbe bekennen. Doch nach der Trauer und dem Mitgefühl mit den geschätzt 1.000 Opfern der letzten Schiffsunglücke scheint bei vielen der 28 Staats- und Regierungschefs schon wieder der Abwehrreflex zu überwiegen.

Sogar einen Militäreinsatz gegen Schlepper und Schleuser könnte die EU beschließen. Dass die Union zu einem harten Schlag ausholen könnte, hatte sich schon beim Treffen der Außenminister am Montag in Luxemburg angedeutet. Laurent Fabius aus Frankreich deutete an, ein Einsatz von Soldaten aus der EU an der Küste Libyens sei nicht ausgeschlossen. Dabei sollten Schiffe zerstört werden, bevor sie Flüchtlinge aufnehmen.

Hierfür wäre allerdings ein Mandat nötig – ein möglicher Grund für den Sondergipfel. Denn wenn es um Militäreinsätze geht, geht in der EU ohne die Staats- und Regierungschefs gar nichts. Italiens Premier Matteo Renzi gab schon die Tonart für das Treffen vor: Man müsse gemeinsam gegen „die Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts“ kämpfen. Seine Exministerin, die EU-Außenvertreterin Federica Mogherini, sagte, dass die EU mit den Vereinten Nationen alle Möglichkeiten beraten werde.

Nach Angaben der EU-Kommission haben die Menschenschmuggler an der libyschen Küste bereits jetzt nicht genügend Schiffe, um die zu Tausenden ankommenden Flüchtlinge zu transportieren. Eine Zerstörung durch Militär könnte verhindern, dass noch mehr Menschen die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer Richtung EU wagen. Als Vorbild gilt die Anti-Piraten-Mission „Atalanta“ vor der Küste Somalias.

Eine härtere Gangart gibt auch der 10-Punkte-Plan der Kommission vor. Die Vernichtung von Schleuser-Booten steht darin an zweiter Stelle, gleich nach der Ausweitung der Seenot-Rettung. Platz drei: eine engere Zusammenarbeit der Polizei- und Justiz-Behörden Europas bei Ermittlungen gegen Schleuser.

Zudem soll ein neues Programm unter Leitung der umstrittenen Grenzschutz-Agentur Frontex dafür sorgen, dass illegale Einwanderer zügig wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. Dazu sollen Fingerabdrücke systematisch erfasst werden. Nur ein Punkt ist der Aufnahme von Flüchtlingen gewidmet: Sie soll freiwillig erfolgen und zunächst nur 5.000 Menschen betreffen.

Das Europaparlament fordert andere Prioritäten. Die EU müsse Menschenleben retten, Flüchtlinge aufnehmen und Schmugglernetzwerke bekämpfen, verlangten die Fraktionsvorsitzenden der Christ- und Sozialdemokraten sowie der Liberalen (EVP, SD, Alde) in einer gemeinsamen Stellungnahme. Außerdem fordern die drei Fraktionen humanitäre Visa und die Inkraftsetzung der „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“.

Diese enthält eine Sonderregelung, um eine große Zahl von Kriegs- oder anderen Flüchtlingen sofort für maximal zwei Jahre in der EU aufzunehmen. Sie wurde 2001 unter dem Eindruck des Kosovo-Konflikts beschlossen, aber noch nie angewandt. Den Grünen im Europaparlament geht auch das noch nicht weit genug. Der Fokus müsse auf Rettung und nicht auf Abwehr liegen, forderte Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms. Zudem setzen sich die Grünen für eine Befreiung syrischer Flüchtlinge von der Visumpflicht ein. „Der 10-Punkte-Plan geht nicht weit genug“, kritisierte die migrationspolitische Sprecherin der grünen Fraktion, Ska Keller.