Eine Geschichte der Bewegung

Was den Tanz bewegt: Seit 25 Jahren ist die Tanzfabrik in Kreuzberg eines der Zentren des zeitgenössischen Tanzes in Berlin. Mit ihrem Programm „reConstruktion newProductions“ leistet sie sich zu ihrem Jubiläum eine Art Rückschau und Resümee

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Gedächtnis des Tanzes ist kurz. Oft lebt ein Stück nur eine Aufführungsserie lang. Wie wenig zum Beispiel Fotos helfen, Tanz zu erinnern, beweist gerade jetzt die tanzhistorisch größte Ausstellung über die Geschichte des Balletts und des zeitgenössischen Tanzes in der DDR und der BRD nach 1945, „Krokodil im Schwanensee“, in der Akademie der Künste. Trotz opulenter Bilder erfährt man kaum etwas darüber, was den Tanz bewegt.

Die freie Szene ist da nicht mehr als eine Fußnote. Wer sich aber in den letzten 20–25 Jahren für zeitgenössischen Tanz interessiert hat, war auf sie angewiesen. Auf Zentren wie die Tanzfabrik, gegründet 1978, als Schule und Produktionsstätte in der Kreuzberger Möckernstraße. Ein kollektives Experiment im alten Westberlin, mit weit ausgestreckten Fühlern zum modern dance aus den USA. Zum 25-jährigen Bestehen haben sie nachgezählt: 500.000 Unterrichtsstunden, 10.000 Schüler, 86 eigene Produktionen, 160 Gastspiele. Nach wie vor sind sie ein wichtiger Arbeitsort in der inzwischen expandierten Tanzszene. Allein im letzten Jahr nutzten 74 Choreografen ihre Probenräume.

Anlass genug, die eigene Geschichte noch einmal mit den Körpern zu befragen und die Entwicklung auszuloten, die Tänzer inzwischen zurückgelegt haben. So ist ein Programm entstanden, das Rekonstruktionen von erfolgreichen Stücken der Achtzigerjahre mit neuen Produktionen zusammenbringt. Da sieht man nicht nur, wie sie sich bewegt haben. Sondern auch, was sie bewegt hat. Wie der Körper, der Befreiung aus Floskeln des Tanzes suchte, auch soziale Konventionen abschütteln wollte. Wie Verbindungslinien gezogen wurden zur bildenden Kunst und Literatur, zur Verhaltensforschung und Biologie.

1983 entstand „Rapid Eye Movement“ von Dieter Heitkamp und Helge Musial, ein Bekenntnis zur Homosexualität und zum Athletischen, verblüffend neu im Spiel mit den Contact-Improvisationen, der Kraftübertragung in der körperlichen Berührung, changierend zwischen Wettkampf und Zärtlichkeit. In der Wiedereinstudierung mit zwei jungen Tänzern hat Heitkamp, heute Professor für Zeitgenössischen Tanz in Frankfurt/Main, die Formen von damals durchaus wieder plausibel gefunden. „Rapid Eye Movement“ ist auch ein grafisch schönes Spiel der Körperlinien vor farbigen Flächen.

Zwanzig Jahre später hat sich vor allem der Gestus verändert: Der Tanz ist, ähnlich wie die bildende Kunst, selbstreferenzieller geworden. Die Ironie und das Hinterfragen der Voraussetzungen, die etwas zur Form werden lassen, haben sich gesteigert. Zumindest ist das so in dem Stück „Ja, ja (der dritte Mann)“ von Martin Nachbar, das sich als Duett zweier Männer nicht nur auf „Rapid Eye Movement“ beziehen lässt, sondern auch auf die Tanzstücke von Jacalyn Carley zu Gedichten von Ernst Jandl, der zweiten Rekonstruktion. Carley ließ die Sprache zum körperlichen Ereignis werden: Da gibt es skurrile Verschmelzungen von Wortbedeutung und Körperhaltung, Verwicklungen in Worthäufungen und nicht zuletzt ein Auskosten der Musikalität der Sprache. Die Möglichkeiten, das Wort Fleisch werden zu lassen, sind außerordentlich reich.

Was bei Carley und Heitkamp zum zwar witzigen, aber dennoch auch perfekt ästhetisierten Gesamtkunstwerk wurde, blättert die nachfolgende Generation wieder spröde auf, wendet Bestandteile und Methoden misstrauisch hin und her. Sie haben die Selbstverständlichkeit des Tanzes aufgekündigt, auch aus der Lust an der Analyse und der Übersetzung theoretischer Systeme. Das geschieht aber wiederum mit viel Charme, als ob sie für die Verliebtheit ins Konzeptuelle ständig grinsend um Verzeihung bitten wollten.

Das Wiedersehen mit den früheren Stücken, die deutlich die Bezüge zu ihrer Entstehungszeit sehen lassen, macht Freude. Gealtert sind sie nicht. Es ist schade, dass man nicht viel öfter die verschiedenen Zeithorizonte des Tanzes nebeneinander erleben kann, so wie es der Griff zu Schallplatten in der Musik jederzeit ermöglicht.

Programm 1 mit Stücken von Heitkamp, Carley, Müller und Nachbar 22. + 23. 11., 20 h in der Tanzfabrik. Programm 2 27.–30. 11., 20 h, in den Sophiensälen