Pflege? Nein, danke!

Viel Stress und kaum Gestaltungsfreiraum: Unsere Pfleger wollen nicht mehr. Auch der Nachwuchs fehlt. Bei unseren Nachbarn sieht’s besser aus

Der Pflegeberuf wirkt sich sehr stark und meistens negativ auf das Familienleben aus

von VOLKER ENGELS

Auch wenn die Arbeitslosenstatistiken gerade in schwindelerregende Höhen klettern und viele junge Leute ohne Ausbildungsplatz auf der Straße stehen: In manchen Berufen läuft der Trend entgegengesetzt. Alten- und Krankenpfleger drängt es mit Macht aus ihrem Beruf, jeder Fünfte denkt ernsthaft darüber nach, aus der Pflege auszusteigen. Das ist das Zwischenergebnis einer europäischen Studie, an der fast 40.000 Mitarbeiter aus Pflegeberufen teilgenommen haben. Auch dem Nachwuchs scheint die Lust aufs Pflegen deutlich vergangen zu sein. Statistiken belegen schon heute einen deutlichen Mangel an Pflegekräften. Tendenz steigend.

Die Attraktivität von Pflegeberufen leidet seit Jahren darunter, dass die Bezahlung mäßig, der Stress aber enorm hoch ist. Denn der tägliche Umgang mit Krankheit, Tod oder Sterben fordert auch physisch oder psychisch seinen Preis. Doch wesentlicher für die Unzufriedenheit des Pflegepersonals in Deutschland sind andere Faktoren, hat die erste groß angelegte Studie zur Entwicklung der Pflegeberufe ergeben. „Der Pflegeberuf wirkt sich sehr stark und meistens negativ auf das Familienleben aus“, sagt Peter Tackenberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität in Wuppertal. Im europäischen Vergleich, sagt Tackenberg, der an der Studie Next (nurse’s early exit study) mitgearbeitet hat, „sind die Pflegenden in Deutschland mit ihren Arbeitszeiten besonders unzufrieden, weil sich Beruf und Familie kaum unter einen Hut bringen lassen“. Die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Arbeitszeit seien in Deutschland sehr gering. 40 Prozent der Pflegenden müssen hierzulande mindestens sechsmal im Monat vor fünf Uhr morgens aufstehen. Im benachbarten Holland bekommt gerade einmal ein Prozent das Morgengrauen mit.

Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit des Pflegepersonals: „Viele der Befragten sehen für sich keine Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf“, leitet Peter Teckenberg aus der Untersuchung ab. Denn auch Pflegepersonal, das sich über Lehrgänge oder Seminare weiterqualifiziere, hätte nur „unzureichende Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten“, so der Wissenschaftler. Das Problem: „Selbst wer sich weiter qualifiziert, hat nicht mehr Geld im Portemonnaie.“

Dass die Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal nicht per se unzureichend sein müssen, zeigt der Blick auf einige europäische Nachbarn: „In Finnland kann man alt werden in der Pflege“, weiß Teckenberg. Ein gutes Drittel des Pflegepersonals sei älter als 50 Jahre. In Deutschland dagegen liegt der Anteil der über 50-Jährigen gerade einmal bei 12 Prozent. Zwar leiden die finnischen Pflegenden unter altersgemäßen körperlichen Einbußen. „Die Arbeitszufriedenheit ist aber so hoch, dass auch die älteren Pfleger im Beruf bleiben wollen.“

Arbeitszufriedenheit, auch das ist ein Zwischenergebnis der Studie, die 2005 endgültig abgeschlossen sein wird, hängt aber auch maßgeblich von der Einrichtung ab, in der das Pflegepersonal arbeitet. Denn der Anteil derjenigen, die den Pflegeberuf verlassen wollen, schwankt je nach Beschäftigungsstelle zwischen 5 und 50 Prozent.

Pflegepersonal mit Fluchtgedanken steht auf der anderen Seite fehlender Nachwuchs gegenüber. Schon jetzt können einige Krankenpflegeschulen wegen einem Mangel an qualifizierten Bewerbern nicht mehr alle Ausbildungsstellen besetzen.

Mehr als neun Millionen Überstunden wurden in der stationären Altenpflege bislang angehäuft, weist die Untersuchung „Pflege-Thermometer“ für das Jahr 2003 aus. Das entspreche rund 5.000 Vollzeitstellen. Für die Untersuchung hat das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) die Daten von mehr als 600 Einrichtungen der stationären Altenhilfe in Deutschland ausgewertet. In diesem Jahr müssten „alleine 20.000 Pflegefachkräfte zusätzlich eingestellt werden, um die neuen und offenen Stellen zu besetzen und die Überstunden abzubauen“, heißt es in der Untersuchung. Schon jetzt glichen Altenheime „Kesseln, in denen der Druck stetig steigt“. Bereits das Pflege-Thermometer des vergangenen Jahres hatte gewarnt, dass im Pflegebereich 42.000 offenen Stellen nur noch 18.000 arbeitssuchende Pflegekräfte gegenüberstehen.

Zu Personalengpässen in der Krankenhauspflege wird es nach Einschätzung von Marie-Luise Müller, Präsidentin des Deutschen Pflegerates, wohl eher nicht kommen: „Krankenhäuser werden sich in Zukunft immer mehr zu High-Tech-Unternehmen entwickeln, die mit hochqualifiziertem Pflegepersonal arbeiten“, sagt die Verbandschefin, die die elf größten Pflegeverbände in Deutschland vertritt. Andere Leistungen im Krankenhaus würden allerdings „zunehmend an andere Berufsgruppen ausgelagert“. Um Krankenhausbetten zu beziehen, reichten auch Hotelfachkräfte aus. In der ambulanten Pflege und in der Altenpflege gebe es aber tatsächlich eine „Berufsflucht“. Eine Ursache liegt für die Präsidentin klar auf der Hand: „Bisher war die Medizin auch in der Pflege die dominierende Berufsgruppe – das muss sich ändern.“

Die Studien: www.next.uni-wuppertal.de/deutsch/index_deutsch.html und www.dip-home.de