GRATISZEITUNGEN HABEN EINE ZUKUNFT – UND NUTZEN ALLEN BLÄTTERN
: Umsonst lesen lernen

Das Szenario klang nicht abwegig: Wo neue Zeitungen verschenkt werden, ist es schwer, die alteingesessenen Blätter zu verkaufen. Diese werden defizitär und müssen schließen. Am Ende bleiben den Lesern nur noch Gratiszeitungen mit Kurzmeldungen. Die vielfältige deutsche Presselandschaft wäre ruiniert, die öffentliche Meinung würde zum Leichtgewicht.

Dennoch hat der Bundesgerichtshof nun Gratiszeitungen unbeschränkt zugelassen, und zwar zu Recht. Denn das Horrorszenario der Verleger war nicht nur übertrieben, sondern vermutlich sogar falsch. In der Schweiz etwa ist die Gratiszeitung 20 Minuten inzwischen die zweitmeistgelesene Tageszeitung. Doch stieg auch die Auflage so genannter Qualitätszeitungen. Der Züricher Tages-Anzeiger legte fünf Prozent an Auflage zu, die Neue Zürcher Zeitung sogar zehn Prozent. Die Gratispostille wird also als kompaktes Pendlerblatt im Zug zusätzlich gelesen. Die Zeitung für zu Hause behält man trotzdem. Dennoch machen sich die Verleger nicht zu Unrecht Sorgen. Denn natürlich binden die Gratiszeitungen Anzeigen, die teilweise den Kaufblättern fehlen. In der Schweiz versuchen deshalb klassische Verleger, sich bei 20 Minuten einzukaufen.

Für Deutschland lässt sich daher prognostizieren, dass es bald einen neuen Anlauf zu Gratiszeitungen geben wird. Um die großen Markenartikler als Anzeigenkunden zu gewinnen, ist dann aber sofort eine nationale Lösung erforderlich – die Zeitungen müssen zumindest in den größten Städten erhältlich sein. Der Schibsted-Versuch in Köln war zu zaghaft.

Natürlich könnte diese Entwicklung zu unerwünschten Verflachungen führen – man weiß es nicht. Die Verleger zeigen sich auf jeden Fall zu kurzsichtig: Die kostenlosen Blätter erreichen nämlich ganz neue Leserschichten. Und das ist im Interesse aller Verlage. Denn gerade mit der Bindung junger Menschen haben beinahe alle Tageszeitungen derzeit große Probleme. Blätter wie 20 Minuten könnten so der Beginn einer wunderbaren Zeitungssozialisation werden. CHRISTIAN RATH