Die Krise der Kerle

Der Mann ist kein Irrtum der Natur, sondern ein Produkt der Gesellschaft: Die satirisch anmutenden Abgesänge auf das Y-Chromosom brauchen dringend eine Gegenstimme

Sinnvoll wäre es, in diesem Kontext das sperrige Gender-Wort in einem anderen Licht zu betrachten

Folgt man den gängigen Zeitgeistprognosen, steht den Männern eine düstere Zukunft bevor. Buchdeckel und Magazintitel präsentieren frustige Schlagzeilen. Vom „Auslaufmodell Mann“ spricht der US-Anthropologe Lionel Tiger; ein „Mangelwesen der Natur“ hat der Spiegel in einem Bericht über neue Erkenntnisse der Forschung ausgemacht: Das Y-Chromosom ist ein Krüppel, der Mann dem Untergang geweiht.

Die biologischen Erklärungsmuster für sozial konstruierte Geschlechterunterschiede sind in Mode. Dass Männer nicht zuhören oder lügen, gut einparken und wenig Schuhe kaufen, erklärt das australische Autoren-Ehepaar Pease kurzerhand mit den unterschiedlich entwickelten Gehirnhälften der Geschlechter. Zehntausende von Jahren haben steinzeitliche Horden ihnen die Aufgabe des Jägers und Beschützers zugewiesen. Jetzt finden sich die davon geprägten Kämpfer nicht mehr zurecht in einer Umgebung, in der körperliche Stärke weniger zählt, in der Rollen nicht klar verteilt sind, in der die Popkultur alles auf Image und äußerliche Attribute reduziert.

Männer machen sich Sorgen um ihr Geschlecht. Das sommerliche Feuilleton-Wehgeschrei über einflussreiche TV-Größen wie Sabine Christiansen konzentriert sich auf eine Arena des Ornamentalen, in der Blondinen schon immer gute Chancen hatten. Weibliche Fernsehpräsenz, garniert mit ein paar reichen Verlegerwitwen, als Beleg dafür, wie überflüssig die Männer geworden sind? So lässt sich prima ignorieren, wer in den Führungsetagen der Wirtschaft nach wie vor das Sagen hat. Frauenförderung, Quote? Nicht nötig, wir haben doch Elke Heidenreich statt Karasek und Reich-Ranicki! Die fortbestehende männliche Dominanz in den Spitzenpositionen von Wissenschaft, Technik und Industrie verdeckt, dass die ganz normalen Arbeitsmänner tatsächlich mit einer Zersetzung ihrer traditionellen Rolle konfrontiert sind. Der Stolz der Ernährer ist angeknackst, das Band der Treue zwischen paternalistischem Unternehmertum und fleißiger Belegschaft ist zerrissen. Vor allem die wilden Kerle der Schwerindustrie sind die Verlierer des Umbruchs. Die weibliche Arbeitslosenquote in Deutschland ist im letzten Jahrzehnt mit 10,3 Prozent nahezu konstant geblieben, die männliche von 7,1 auf 11,3 Prozent im Jahr 2002 gestiegen. Selbst in Ostdeutschland, einst eine Hochburg der Frauenerwerbslosigkeit, sind inzwischen ebenso viele Männer ohne einen Arbeitsplatz. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es halb verlassene Dörfer, in denen fast nur noch Alte und männliche Alkoholiker leben – junge Frauen wandern deutlich häufiger ab und bauen sich in Westdeutschland eine neue Existenz auf.

Die Fabrikjobs haben einst unqualifizierten Männern ermöglicht, vom delinquenten Jugendlichen zum ehrbaren Familienvater aufzusteigen. Mit ihrer Hände Arbeit vermochten sie die hungrigen Mäuler zu Hause zu stopfen. Wer das nicht mehr bieten kann, hat geringere Chancen, eine Partnerin zu finden. Das uralte Verfahren, Männer in der Ehe zu zivilisieren, funktioniert nicht mehr. Sie blieben in einer Peter-Pan-Welt des gelegentlichen Sex und der Kriminalität stecken, glaubt die britische Autorin Suzanne Franks.

Die Londoner Zeitschrift Economist titelte einst „Uneducated, unemployed, unmarried“ – ohne Ausbildung, ohne Job, ohne Liebe. Die Formel macht deutlich, dass die Krise der Arbeit vor allem eine Krise der Kerle ist. Die Basis, auf der sie ihr Selbstbild aufgebaut haben, bröckelt; soziale Deklassierung und biografische Verunsicherung sind die Folgen davon.

Blätter wie Men’s Health propagieren den Körperkult ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo er ökonomisch immer weniger Sinn macht. Heute, schreibt der amerikanische Männerforscher Sam Keen, werde die Welt weitgehend von Stadtbewohnern mit sitzender Lebensweise regiert. Das Machtsymbol dieser Herrschaft ist der Stuhl; der Chairman leitet die Sitzungen. Muskeln dagegen zahlen sich nicht mehr aus in einer Wirtschaft, die immer weniger Bau- oder Bergarbeiter benötigt. Mit Ausnahme von Sportlern, deren Körper zu unserer Unterhaltung gestählt werden, kommen Männer nicht mehr aufgrund von körperlicher Bewegung voran.

Hat der weinerliche Alarmismus also doch seine Berechtigung? Liegt es am Ende wirklich an den Genen? Schirrmacher & Co arbeiten sich schlicht am falschen Phänomen ab. Auf den bildfixierten Märkten der Eitelkeit wie dem Fernsehen mögen Frauen an Einfluss gewonnen haben. Viel interessanter aber ist zum Beispiel, dass in deutschen Haupt- und Sonderschulen doppelt so viele Jungen wie Mädchen sitzen. 60 Prozent der GymnasiastInnen sind weiblich, unter den StudienanfängerInnen überwiegen inzwischen ebenfalls die Frauen. Bei den Hochschulabschlüssen, erst recht bei Promotion und Habilitation, sind die Herren jedoch nach wie vor im Vorteil. Professuren sind Männersache, ebenso die Schlüsselpositionen in Unternehmen und vor allem in den naturwissenschaftlichen Berufen. Die derzeitige Leitbranche der Ökonomie, die Informationstechnik, ist ein dezidiert männliches Territorium. Die Start-up-Unternehmen waren Patriarchat pur, eine echte „Brüderhorde“, resümieren Alexander Meschnig und Mathias Stuhr ihre Erfahrungen in einer Gründerfirma der New Economy.

Das Band zwischen paternalistischem Unternehmertum und fleißiger Belegschaft ist zerrissen

Unser Geschlecht hat Symphonien, die Relativitätstheorie, die Pyramiden erschaffen und ist auf dem Mond gelandet, kommentierte ein Spiegel-Leser das fragile genetische Material, das den Mann angeblich früher sterben lässt: Dafür habe er gern sechs Jahre weniger Alzheimer. Kein Grund, so besehen, für das starke Geschlecht, sich Sorgen zu machen? Im letzten Jahrhundert sind die meisten Eckpfeiler männlicher Identität und Selbstdarstellung ins Wanken geraten. Der starke Mann, der die Natur besiegt; der unersetzliche Familienversorger, der mutige Verteidiger von Frauen und Kindern; der Erwerbsmann, der sich über seine bezahlte Tätigkeit definiert. Was ist heutzutage noch männlich?

Die Verhaltens- und Hirnforschung, die selbst im trockensten Buchhalter noch die Grundmuster des zentralafrikanischen Berggorillas wiederfindet, schreibt die alten Geschlechterrollen fest. Sinnvoll wäre es, in diesem Kontext das sperrige Gender-Wort in einem anderen Licht zu betrachten: als eine Art sozialisationstheoretisches Konzept, das von der gesellschaftlichen Bedingtheit der Rollenentwürfe – und damit ihrer Gestaltbarkeit – ausgeht. Eine solche Interpretation widersetzt sich dem modischen Biologismus, der den Mann als Irrtum der Natur betrachtet – und bietet ein emanzipatorisches Gegengewicht zu den satirisch anmutenden Abgesängen auf das Y-Chromosom. Männer haben jenseits der gängigen Klischees ihre positiven Seiten – und zudem die Chance, sich zu verändern und dabei neue Kompetenzen zu erwerben. Die 125.000 Jahre, die ihnen selbst die Genetiker der Apokalypse noch geben, sollten reichen. THOMAS GESTERKAMP